VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

Wilhelm Stolze (1798 ‑ 1867)

Wilhelm Stolze wurde am 20. Mai 1798 in Berlin geboren. Ab 1809 besuchte er das Joachimthalsche Gymnasium. Sein Vater starb 1812. Von dieser Zeit an musste Wilhelm für den Unterhalt der Mutter und den eigenen sorgen; er gab Nachhilfestunden und erledigte im Auftrag schriftliche Arbeiten. Die umfangreichen Schreibarbeiten weckten in ihm das Interesse an einer Kurzschrift, auf die er durch einen Mitschüler aufmerksam gemacht wurde. Die Stenografie war zu dieser Zeit aber noch weitgehend unbekannt, denn kein Lehrer der Anstalt konnte ihm ein Lehrbuch nennen. Nach bestandener Reifeprüfung konnte der tüchtige junge Mann seinen Berufswunsch ‑ Studium der theologischen Wissenschaften ‑ nicht verwirklichen, da er mittellos war.

1817 nahm er bei der Berliner Feuerversicherungsanstalt eine Stelle an. Neben dieser Tätigkeit nutzte er die Zeit für den Besuch von Vorlesungen, hörte Vorträge und betrieb ein intensives Buchstudium.

Der erste Bezug zur Stenografie. Der Wunsch nach einer Kurzschrift trat durch die zunehmenden Schreibarbeiten wieder in den Vordergrund. 1820 erlernte er Mosengeils verbessertes System (1819). Darüber schreibt er in späteren Jahren: „Mosengeil war mein erster Lehrer der Stenographie; von ihm habe ich das Streben nach Genauigkeit gelernt." Von nun an widmet er alle Zeit, die ihm die trockenen Zahlen des Versicherungswesens noch lassen, der Kurzschrift und dem Studium der Sprachen. Eingehend beschäftigt er sich mit den geometrischen Kurzschriften von Horstig, Leichtlen und Stärk. Die Auseinandersetzung mit Gabelsberger führt ihn hin zur kursiven Stenografie. Letztlich war er mit keiner der Schriften so ganz zufrieden.

Nach seiner Vorstellung sollte die ideale Kurzschrift die Eigentümlichkeiten der Muttersprache berücksichtigen und dabei im höchsten Maße einfach und zweifelsfrei sein, wenn ihr Ziel in einer Volkskurzschrift gesehen werden soll. Dieses Ziel strebte er mit einer eigenen Kurzschrift an.

Im März 1838 hatte er die Grundzüge seines Systems fertig und war davon überzeugt, dass seine Vokalbezeichnung eine geniale Lösung sei. Die Brauchbarkeit seines Systems prüfte er dahin gehend, dass er sechs Bände der Weltgeschichte übertrug und so über ausreichendes Material zur Veränderung und Verbesserung seines Systems verfügte.

Sorge bereitete ihm, dass er nicht über die finanziellen Mittel, die für eine Veröffentlichung nötig waren, verfügte. Er wandte sich daher an das Kultusministerium und bat um Hilfe. In einem Schreiben vom 31. Dezember 1840 wurden ihm für eine Auflage von 1 000 Stück 282 Taler für zwei Jahre geliehen. Das „Theoretische praktische Lehrbuch der deutschen Stenographie für höhere Schulen und zum Selbstunterricht. Nach einer neuen Methode, welche Kürze und Vollständigkeit der Bezeichnung miteinander verbindet" erschien 1841 bei Nikolai in Berlin. Die Hoffnung, das System in den höheren Schulen eingeführt zu sehen, die Dr. Brüggemann, der Dezernent im Kultusministerium, in ihm erweckt und auf dessen Veranlassung er den Titel gewählt hatte, ging nicht in Erfüllung; nach Jahren hatte Stolze Gelegenheit zur Akteneinsicht. Da entdeckte er auch den Grund der unerfüllten Hoffnungen. Dr. Brüggemann hatte geschrieben, er könne nur dringend raten, Stolze eine Unterstützung zur Herausgabe seines Werkes zu gewähren; man werde auf diese Weise bei dem Feuereifer des Mannes durch eine einmalige Ausgabe und dadurch, dass man ihm Aussichten auf Einführung seines Systems in den Schulen eröffne ‑ die sich ja später nicht zu erfüllen brauchten ‑, das Ziel erreichen, sich tüchtige Stenographen zu beschaffen, ohne genötigt zu sein, wie andere Staaten regelmäßig dauernde Ausgaben dafür zu machen oder gar ein Staatsinstitut zu errichten. ‑ Da sah Stolze nachträglich, dass er Opfer des Staatsegoismus geworden war.

Stolze erbat und erhielt von der Schuldeputation Berlin die Erlaubnis, öffentlich Privatunterricht zu erteilen. Er unterrichtete Privatleute, hielt einige Kurse für Gymnasiasten, für Volksschullehrer und für Offiziere aus dem Generalstab. Die mit diesem Unterricht erzielten Einkünfte reichten allein nicht, neben dem täglichen Brot auch noch an die Rückzahlung der vom Kultusministerium geliehenen Summe zu denken. Er tilgt seine „Schulden" beim Ministerium ratenweise mit 60 und 80 Lehrbüchern seines Systems, die er einsendet und die auch angenommen werden. Er will kein Bettler sein, wenn man ihm das auch nicht zu halten braucht, was man zuvor versprochen.

Die Polytechnische Gesellschaft lässt sich für Stolzes Schrift gewinnen und stellt Schüler aus ihrem Kreise. Frühere Schüler Stolzes gründen am 24. Juni 1844 den ersten stenografischen Verein Deutschlands mit dem Namen „Stenographischer Verein zu Berlin".

1845 bewies das System Stolze seine praktische Brauchbarkeit als Parlamentsschrift beim Stenografieren der Verhandlungen des Rheinischen Provinziallandtags. Zur wahren Feuerprobe der Schrift Stolzes wurde das Jahr 1847. Der König hatte den Ersten Vereinigten Landtag nach Berlin berufen. Im stenografischen Büro waren neben Stolze fünf Stenografen aus dem „Stenographischen Verein" tätig. Die Unterbringung der Stenografen erfolgte in weiter Entfernung in einer Fensternische, verdeckt von den Ministern; um Störungen zu vermeiden, durften sie sich während der gesamten Verhandlungsdauer nicht ablösen. Mit der Übertragung durften sie erst am Abend beginnen, und zwar in einer unruhigen Botenstube; in langer Nachtarbeit fertigten sie schließlich die Übertragung zu Hause an. Unter solchen belastenden Umständen erschienen die Berichte mit einiger Verzögerung. Plötzlich wurde das Gerücht zur Gewissheit, die Regierung habe Professor Wigard (dieser war Gabelsbergeraner, Gründer und Leiter des Königlich Stenographischen Instituts in Dresden) mit drei Gabelsbergeranern nach Berlin gerufen. Professor Wigard übernahm die Leitung des stenografischen Büros nur unter der Bedingung, dass vor der stenografischen Aufnahme die Unzulänglichkeiten abgestellt wurden. Als diese Bedingung erfüllt war, arbeiteten auch die Stolzeaner zur Zufriedenheit.

Die Stolzeaner wurden in die Parlamente von Braunschweig und Anhalt berufen und bildeten 1850 die Mehrheit beim Unionsparlament in Erfurt. Stolze wurde zum Vorsteher des stenografischen Büros des Landtages von Preußen ernannt. Ab 1852 bildete er in der sitzungsfreien Zeit in amtlichen Lehrgängen Praktiker aus. Mit der Festigung seiner Stellung und der ständig wachsenden Anerkennung seiner Schrift wurde „Vater Stolze" leichter, fröhlicher und gesellschaftlicher. Gern weilte er nach der Tagesarbeit im Kreise der Schriftfreunde, soweit das der umfangreiche Briefwechsel, seine literarischen Arbeiten und die von ihm gewünschten Gutachten und Urteile zuließen.

Am 20. Mai 1866 feierten die Schriftfreunde die Veröffentlichung seines stenografischen Lebenswerkes 25 Jahre zuvor; er selbst war zu dieser Zeit aber bereits an das Bett gefesselt.

Am 9. Januar 1867 ‑ nur zwölf Tage nach dem Tod seiner Frau ‑ fand ihn sein Sohn am Morgen tot auf. Auf dem Friedhof der Domgemeinde haben ihm seine Schüler ein ehrendes Denkmal gesetzt.

Ein Nachtrag. Bevor Stolze an die Verwirklichung der Idee eines perfekten stenografischen Systems ging, analysierte er die bestehenden stenografischen Systeme sichtend und wertend. Als ihm im März 1838 der Wert des Verbindungsstriches ‑ seine Selbstlautsymbolik ‑ aufgegangen war, baute er auf phonetischer Grundlage (ähnliche Laute, ähnliche Zeiten) die Konsonanten nach strenger Wissenschaftlichkeit und nach den Gesetzen des Stammes. Nach Stolze darf kein Laut unbezeichnet bleiben, es sei denn, dass die Regel den Laut vertritt.

Wenn Gabelsberger das Stoffliche bis zur praktischen Idee zwingt und meistert, so durchdringt Stolze das Stoffliche mit der klaren Idee. In der DEK hat sich das Werk beider großer Meister ‑ Gabelsbergers und Stolzes ‑ so innig verschmolzen, dass man rückschauend den Widerstreit beider Schriften zwar bedauern muss, aber die für beide notwendige Ergänzung durch die andere Auffassung nur als glücklich bezeichnen kann.