VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

aus: NStPr 60/1 (2012) 1-12

Gründung der Ziffernkanzlei und kontinuierlicher Aufstieg

Die Geheime Ziffernkanzlei in Wien, ein Institut zur Briefspionage, wurde nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) unter Kaiser Karl VI., dem Vater der Maria Theresia, ins Leben gerufen. Eine Gründungsurkunde existiert nicht; man vermutet aber, dass sie um 1716 gegründet wurde. Genau bekannt ist dagegen das Datum der Auflösung: der 4. April 1848, rund zwei Wochen nach der Märzrevolution, die das Herrschafts- und Sozialgefüge der Donaumonarchie tief erschütterte und der organisierten „Briefgeheimnisentheiligung"[1] zunächst ein Ende setzte. Weil es Anhaltspunkte gibt, dass diese Kanzlei auch stenographiegeschichtlich von Interesse sein könnte, will ich sie im Folgenden zunächst in einigen Zügen vorstellen.

 

Zum Vorbild hatten sich die Habsburger – wie übrigens auch andere europäische Herrscher – das in Frankreich schon bestehende Cabinet Noir genommen, dessen Ursprünge ins 16. Jahrhundert zurückreichten, das aber erst unter Kardinal Richelieu im 17. Jahrhundert seine genaue Kontur erhielt. Hier wurde jetzt nicht allein die Korrespondenz der Diplomaten ausgeforscht. Im Visier standen in zunehmendem Umfang auch politisch oder polizeilich verdächtige Personen sowie das Militär, die Beamten, selbst Hofkreise und der Klerus.[2]

Gerade zu letzterem Personenkreis kennen wir ein kurzschrifthistorisches Beispiel. Es ist die traurige Geschichte jenes französischen Priesters und Systemerfinders Jean Louis Prieur, der – etwa um 1760 – mit seiner Kurzschrift beim zuständigen Ministerium keinen Anklang fand und auf den Gedanken verfiel, das System einem Förderer der Wissenschaften und zeitweiligen Freund Voltaires vorzustellen, nämlich Friedrich dem Großen. Der Brief wurde prompt vom Cabinet Noir abgefangen. Der Abbé geriet in Untersuchungshaft, konnte zwar den Vorwurf, mit dem Preußenkönig „geheimschriftlichen" Kontakt gesucht zu haben, entkräften, wurde dennoch jahrelang festgehalten, bis er, der politisch harmlose Stenograph, hinter Gittern verstarb.[3]

Doch zurück an die Donau. – Die Geheimkanzlei war in ihren zunächst bescheidenen Anfängen lediglich mit dem Grafen Rochus Stella von Santa Croce als Leiter und zwei Mitarbeitern sowie einem Diener besetzt – die Ersteren alle kryptographisch versiert – und befasste sich größtenteils mit Poststücken diplomatischer Herkunft. Diese waren üblicherweise chiffriert – daher auch der Name Zyffer‑Cantzeley: Zyffer, Ziffer = Chiffre. Doch auf der Jagd nach umfassenderen Informationen weitete sich die Überwachung schon bald auf den normalen Briefverkehr aus, das heißt auf Handels- und Privatbriefe aller Art, 1735 zum Beispiel auf den Bereich der Feldpost gemäß einem Ersuchen des Prinzen Eugen (des „edlen Ritters") an den Kaiser.[4] Gleichzeitig wurden in wichtigen Postanstalten an Kreuzungspunkten internationaler Postkurse auf österreichischem Territorium geheime Logen eingerichtet: kleine Dependancen, die die Wiener Zentrale nach bestimmten Vorgaben zu unterstützen hatten. Die Auswahl der Logisten, ihre Schulung und instrumentelle Ausrüstung wurden mit großer Sorgfalt betrieben, auch ihre Beschattung auf Unbestechlichkeit.[5]

Schon um die Jahrhundertmitte nahm die Zentrale, was Technik, Schnelligkeit und Geheimhaltung der Ausspähung betrifft, eine Spitzenstellung in ganz Europa ein. Beispielsweise verabschiedete man sich von der französischen Methode, bei versiegelten Briefen das Siegel mit einem erhitzten feinen Draht möglichst schadlos abzulösen und später neu aufzubringen. Vielmehr entwickelte man eine relativ schnell durchführbare Abformungstechnik, die sicherstellte, dass dem Brief keine Manipulation anzusehen war.[6] Auch galt als eiserner Grundsatz, dass kein Brief, zumindest in nennenswertem Ausmaß, in seinem regulären Lauf aufgehalten wurde. Und die Tatsache, dass überhaupt ein geheimer Postdienst bestand, unterlag durch diverse administrative Maßnahmen weit größerer Verschwiegenheit, als es in Frankreich, namentlich am Hofe Ludwigs XV. (1710–1774) und auch noch nach der Revolution von 1789, der Fall war. So schreibt Wilhelm von Humboldt in einem Brief vom 11. Oktober 1797 an Friedrich Schiller, in Paris sei bei der Ausspionierung der Briefe „keine Heimlichkeit dabey. Denn man empfängt die ankommenden fast gewöhnlich offen"[7].

Anders also in Österreich. Aber so dicht konnte der Mantel des Schweigens nicht sein, dass nicht doch Gerüchte kursierten und mancher Briefschreiber lieber dem gut ausgebauten Botenwesen vertraute als der vom Hause Thurn und Taxis betriebenen kaiserlichen Post. Im Gegensatz zu Frankreich, wo man bereits ein staatliches Beförderungsmonopol durchgesetzt hatte,[8] konnte man sich in Österreich noch der Botenanstalten bedienen – freilich unter Inkaufnahme gewisser Nachteile. Vor allem war die Post mit ihren Relaisstationen, an denen Kutscher und Pferde ausgetauscht wurden, den Boten, das heißt den „Reitenden", auf jeder längeren Strecke weit überlegen (von den „Fußgehenden" ganz zu schweigen).

Der Personalbestand der Ziffernkanzlei vergrößerte sich mit dem wachsenden Aufgabenumfang. Hinzu kommt aber noch die schlichte Tatsache, dass der Briefverkehr generell im 18. Jahrhundert stark anwuchs. Man hat ja dieses Jahrhundert unter anderem auch als das „Jahrhundert des Briefes" bezeichnet.[9]

So sind denn für 1721 sechs, für 1737 neun Kanzleiangehörige angegeben, um 1780 waren es neben dem Amtsleiter und dem Subdirektor drei Räte, 14 Offiziale als „Interceptions-Copisten"[10] und Dechiffreure sowie vier Diener; diese Zahlen blieben bis 1848 in etwa gleich.

Und lassen wir in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt, dass die Kanzlei eine Männerdomäne war. Doch das gehörte noch bis ins beginnende 19. Jahrhundert zur Normalität der Zeit. Beispielsweise stand auch die von Heger 1840 in Wien gegründete stenographische Lehranstalt gemäß einer behördlichen Klausel nur „männlichen Individuen" offen (für Gabelsberger freilich schon ein Stein des Anstoßes: „Warum sollte die Kunst nicht auch von gebildeten Frauenzimmern erlernt werden dürfen?"[11]).

Ein Dauerproblem war die Gewinnung geeigneter Anwärter, da hervorragende Allgemeinbildung und Sprachenkenntnis, sodann Teamfähigkeit, Arbeiten unter hohem Zeitdruck, allseitige Belastbarkeit, Kenntnis der europäischen Politik und ihrer Akteure, manipulatives Geschick, nicht zuletzt auch eine mustergültige Lebensführung sowie unverbrüchliche Verschwiegenheit und Loyalität gefordert wurden.

Parlaments- und Verhandlungsstenographen könnten sich hier durchaus in manchem Punkt an das eigene Anforderungsprofil erinnert fühlen.

Vielfach vererbte sich dieser besondere Beruf – wie man es von den Gurney-Stenographen in England oder auch von frühen italienischen Geheimschriftexperten kennt[12] – generationenweise fort.

Schwächephase und neues Erstarken

Eine einzige Schwächephase erlebte das Institut früh am Anfang des 19. Jahrhunderts, als der schon betagte, aber bis dahin untadelige Amtsleiter Joseph Franz Stephan von Kronenfels viele Dinge zunehmend schleifen ließ und sogar den seltsamen Plan verfolgte, das hohe Gesamteinkommen der Ziffernbeamten auf das Besoldungsniveau der Beamten im persönlichen Kabinett des Kaisers herabzudrücken (dieses Kabinett wurde von Kronenfels 1805/1806 gleichzeitig geleitet).[13]

Das alles erzeugte Unmut. Wenzeslaus Löschner, Hauptdechiffreur und Fachmann für russische Sprache, erklärte rundheraus, der Chef befinde sich „im Stande der zweiten Kindheit".[14] In diesem Betriebsklima gingen Quantität und Qualität der Leistungen deutlich zurück.

Mit dem Beginn der Ära Metternich kam es schnell zum Wiederaufschwung. Kronenfels wurde zum 1. Januar 1811 pensioniert (bereits am 15. Januar segnete er, 77‑jährig, das Zeitliche), und während des Wiener Kongresses 1814/15 erbrachte der Dienst dem Kaiser und seinem Außenminister längst wieder die wertvollsten Informationen. Metternich ließ 1821, nach seiner Ernennung zum Staatskanzler, das „Visitations- und Interceptions-Geschäft" weiter intensivieren. Im Hintergrund stand jetzt bereits die Angst vor der Revolution. Unter anderem wurde dem Leiter der nach dem Vorbild der napoleonischen Staatspolizei neu organisierten „ganz geheimen Policey" eine vermehrte Einflussnahme auf die Ziffernkanzlei zugebilligt. Daraus resultierte sofort eine Ausweitung der von den Postlogen zu beachtenden Observationslisten, wodurch in den Logen wie in der Zentrale die Arbeit anwuchs. Zudem wurden in altbewährtem Einvernehmen mit der Taxis'schen Post[15] mehrere neue Logen eingerichtet, beispielsweise in Karlsbad und Marienbad wegen des internationalen Publikums. Auch Goethe, der bei seinen dortigen Aufenthalten reichlich korrespondierte, gehörte zu den „invigilierten" (überwachten) Personen.[16]

Stenographisches Interesse? Welche Quellen gibt es?

Aber warum sollte unser Geheimamt, das ja schon die Aufmerksamkeit so manch eines Autors, sogar Romanautors[17], gefunden hat, nun auch das Interesse von Stenographen erregen? War dort Kurzschrift in Gebrauch? Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Denn die in der Kaiserstadt anfallende Briefmenge – Fernbriefe und „Locopost" – war so groß, dass auch die Abschrift der relevanten Teilmenge in der gebotenen Eile eigentlich nur mit fliegender Feder zu schaffen war. Somit könnte sich eine genauere Nachforschung lohnen.

Leider ist nur wenig an originalem Material vorhanden. Mehrmals wurden in Kriegszeiten schriftliche Zeugnisse aller Art vorsorglich vernichtet, damit nichts über den heiklen Gegenstand in Feindeshand fiel; so im Siebenjährigen Krieg (1756–1763), als die Preußen vor Wien standen, oder 1805, als die Okkupation der Stadt durch Napoleon abzusehen war.[18] – Trotzdem gibt es eine aussagekräftige ältere Darstellung, die weiterhilft.

Schon wenige Jahre nach Auflösung des alten Sekretdienstes (1848) erwachte nämlich im österreichischen Neoabsolutismus aufs Neue der Wunsch nach Überwachung der Post, vornehmlich der Diplomatenbriefe, aber auch bestimmter anderer Korrespondenzen. Vor der Gründung eines Nachfolgeinstituts[19] wünschte der Minister des Äußeren, Karl Ferdinand Graf von Buol‑Schauenstein, jedoch einen Bericht über den Geschäftsgang und die Personalausstattung der Vorgängerkanzlei, wenn möglich bis zu den Anfängen.

Niemand war besser für den Auftrag geeignet als der ehemalige 2. Offizial‑Major der Dienststelle, Alois Cobelli. Er konnte für seine Arbeit auf eine Chronik seines früheren Kollegen von Hölzl[20] zurückgreifen und auf einige Archivmaterialien, die bei den häufigen Skartierungen (Vernichtungen) verschont geblieben waren. Zudem hatte er aus fast 30‑jähriger Tätigkeit – er war 1822 vereidigt worden – selber gute Kenntnisse, ergänzt durch das, was er von den ältesten Beamten gehört hatte, die bei seiner Einstellung noch „gar manches aus der Zeit Karls VI. und der Maria Theresia zu erzählen wussten"[21]. Alles in allem: Wenn es um die Arbeitsvorgänge in der Ziffernkanzlei geht, ist er unser Gewährsmann.

Leider ging sein wertvolles Manuskript im Februar oder März 1945 verloren, als die amerikanische Bombardierung Wiens ihren Höhepunkt erreichte. Doch glücklicherweise hatte im Jahre 1937 eine umfassende Auswertung mit vielfach wörtlicher Textübernahme durch Franz Stix stattgefunden, einen Schüler des großen österreichischen Historikers Wilhelm Bauer (siehe Anm. 18). Des Weiteren war das Manuskript zwei Jahre zuvor schon in Händen von Josef Karl Mayr, der speziell die Metternichzeit beleuchtete (siehe Anm. 14).

Der tägliche Geschäftsgang – Geheimschriften – Fremdsprachen

Nach Cobellis Darstellung war die arbeitstägliche Postbearbeitung so geregelt, dass die im Hofpostamt „perlustrierten", das heißt aufgehaltenen Briefe dem Ziffernkabinett in vier Schüben, beginnend am frühen Vormittag, angeliefert, dort kunstgerecht geöffnet, auf Relevanz geprüft, protokolliert, abgeschrieben und endlich wiederum kunstgerecht verschlossen wurden – meistens ein Wettlauf mit der Zeit. Der letzte Schub musste dem Postamt gegen 18.30 Uhr zur regulären Weiterbeförderung retourniert werden.

Die Bearbeitung geheimschriftlich verfasster Schriftstücke war besonders zeitaufwendig. Insbesondere bei kryptographischen Zeichenalphabeten hatten die Kopisten die Zeichen regelrecht „abzumalen"[22]. Schon kleine Fehler beim Sichern des Textes hätten den Dechiffreuren – sie galten als die besten ganz Europas[23]– die Entschlüsselung vielleicht unmöglich gemacht und schlimmstenfalls die Aufdeckung gefährlicher Umtriebe gegen Thron und Staat verhindert. Es kam nicht selten vor, dass ein Brief dieser Kategorie mit der letzten Posttasche nicht zurückgegeben werden konnte und dem Postkutscher durch einen Kurier hinterhergebracht werden musste.

Keine Besonderheit stellten dagegen die fremsprachlichen Briefe dar. Sie kamen im Herzen der Monarchie in großer Zahl aus aller Herren Länder zusammen – allein in den österreichisch-habsburgischen Grenzen lebten elf Sprachnationen.[24] Doch gehörte zu den herausragenden Qualifikationen der Könner dieser Anstalt auch eine bewundernswerte Sprachenkenntnis,[25] sodass es kaum einen fremdsprachlichen Brief gab, der nicht genauso souverän bearbeitet werden konnte wie ein deutscher.

Diktat und Kurzschrift

Ob nun deutsch oder fremdsprachlich: Man verfuhr beim Herstellen der Kopien in der Regel so, dass man bei Briefen mittleren Umfangs Viererarbeitsgruppen bildete: „Zwei Offiziale nahmen einen Bogen und diktierten zwei Schnellschreibern."

Bei größeren Briefschaften schlossen sich, wenn das Personal reichte, zuweilen sogar acht Beamte zusammen: „... vier Offiziale diktierten zugleich aus einem Bogen auf eine so geschickte Weise vier Kollegen, daß die Schreibenden nicht irre werden konnten."[26]

Bei Mayr findet sich dazu unter Berufung auf Cobelli der ergänzende Hinweis: „Durch geschickt ,kadenzierte' Aussprache brachte die Geheime Ziffernkanzlei dies Kunststück zuwege."[27] Auf diese Weise bewältigte man rund 80, manchmal 100 Briefe im Laufe eines Tages, „eine gewaltige Leistung für das nicht gerade zahlreiche Personal".[28]

Die notwendige Umschrift, das heißt die Anfertigung einer vorzeigbaren Kopie des Briefes, gegebenenfalls in Übersetzung, wurde in Teilen schon zwischen den Postschüben, sonst aber ab etwa 18.30 Uhr ausgeführt; Spät- und Nachtdienst gehörten zu dieser Amtsstelle, und nicht ohne Grund lagen Privatwohnungen und Diensträume unter einem Dach (vgl. Anm. 13). Schon in der Frühe des nächsten Morgens konnte die fertiggestellte Ausbeute – ergänzt durch die aus den Postlogen eingetroffenen Interzepte – den beiden vorgeordneten Stellen zugeleitet werden („Kaiserpaket" und „Policeypaket"). Nach dortiger Auswertung erfolgte relativ schnell die Rückgabe. Und in der Ziffernkanzlei wurden die Interzepte dann einige Wochen bis Monate später verbrannt[29] – so wie schon vorher die primären Mitschriften.

Die geschilderte Arbeitsweise der Ziffernkanzlei war nach Cobellis Angabe schon in der Frühzeit eingeführt und hielt sich bis 1848.[30]

Nun zum entscheidenden Punkt: Waren die Kopisten, wie wir gefragt hatten, stenographiekundig?

Im obigen Zitat klang es bereits deutlich an, und Cobelli bekräftigt erneut: „Die Offiziale waren in der Regel Schnellschreiber. Hin und wieder gab es auch ,short hand-Schreiber'."[31]

Mehr – etwa zu angewandten Systemen – gibt der Bericht nicht her. Aber mehr war auch nicht zu erwarten. Denn schreibtechnische Einzelheiten hätten Buol-Schauenstein als Auftraggeber schwerlich interessiert – anders als uns. Und somit unsere Frage: Was lässt sich aus den Begriffen „Schnellschreiber" und „short hand-Schreiber" folgern?

Shorthand-Schreiber

Dieser Begriff ist eindeutig und erlaubt den Schluss, dass englische Stenographie im Ziffernkabinett angewandt wurde. Cobelli, der im Personalverzeichnis als Fachmann für englische und griechische Sprache aufgeführt ist, mag selber zu den Stenographers gehört haben.

Ihre praktische Kenntnis könnten zumindest einige dieser Kanzlisten sogar im Mutterland der Stenographie erworben haben. Denn es war üblich, Dienstanwärter mit noch nicht perfekter Beherrschung einer Sprache für einige Zeit in die österreichische Botschaft des betreffenden Landes abzuordnen. Sollte man zweifeln, dass die nach London Abgeordneten nicht dort auch Shorthand erlernt hätten? Der Nutzen für den angestrebten Beruf lag auf der Hand.

Welche englischen Systeme im Lauf der Zeit erlernt wurden, bleibt offen. Wir können aber vermuten: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es vielleicht Jeremiah Rich, später Byrom und sicherlich Taylor, im 19. Jahrhundert bis 1848 vielleicht Gurney, dessen System beispielsweise Charles Dickens in seiner aktiven Stenographenzeit um 1830 noch bevorzugte.

Schnellschreiber

Auch dieser Begriff kann als eine eindeutige Aussage verstanden werden. Denn um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Cobelli seinen Bericht verfasste, hat sich der allgemeine Sprachgebrauch bereits festgelegt: Schnellschreiber bezeichnet spezifisch den Anwender systematischer Tachygraphie und nicht einfachhin den schnellen Schreiber regellos abgekürzter Langschrift.

Nehmen wir zwei Beispiele von vielen. Pierers Universal-Lexikon gibt 1835 für Tachygraph die Erklärung Schnellschreiber, und die Schnellschreibekunst (Tachygraphie) wiederum steht für Stenographie.[32] Noch besser eine briefliche Äußerung von Erhard Giavina, einem Schüler des Kammerstenographen August Winter, aus derselben Zeit. Er schreibt an den Badischen Landtag:

Mit großem Zeitaufwand ... widmete ich mich seit mehr als einem Jahre fast ausschließlich dem Studium der Stenographie in der Hoffnung, auf dem gegenwärtigen Landtage von der hohen 2. Kammer als Schnellschreiber [!] neben dem bisherigen Stenographen Herrn Winter aus Stuttgart angestellt zu werden."[33]

In diesem Sinne wird das Cobelli-Zitat denn auch in neuerer Zeit von dem Kryptographiehistoriker David Kahn verstanden. Er schreibt über die Anfertigung der Abschriften in der „Black chamber of Vienna":

Long letters were dictated to save time, sometimes using four stenographers [!] to a single letter.[34]

Wenn es also an der Tatsache angewandter Stenographie keinen Zweifel geben sollte, dann stellt sich auch hier, wie oben, die Frage nach den Systemen.

Mit Blick auf das 18. Jahrhundert kann allerdings nur an eines gedacht werden, nämlich an die Tacheographia von Carl Aloys Ramsay. Sie war seit ca. 1680 für die deutsche und die französische (und auch für die lateinische) Sprache lehrbuchmäßig ausgearbeitet, erlangte zwar keinerlei Breitenwirkung, fand aber als Notiz- und Diktattachygraphie einige Liebhaber – so den toskanischen Großherzog Pietro Leopoldo, den späteren römisch-deutschen Kaiser Leopold II.[35], oder den holländischen Mediziner und Gelehrten Gerhard van Swieten, der am Wiener Hof eine bedeutende Position innehatte.[36] Des Weiteren war das System an der Hohen Karlsschule zu Stuttgart bekannt.[37]

Dass sich auch die auf höchste Eile bedachten Ziffernbeamten der Tacheographia versichert haben, ist anzunehmen. Denn was gab es in dieser ersten Phase deutscher Kurzschrift anderes?

Nachteilig war zweifellos die altgeometrische Vokalandeutung, deren fünf Stellen bei schnellerem Tempo und langen vokalreichen Wörtern oder unbekannten Eigennamen eine problemlose Wiederlesbarkeit nicht immer garantierten; so musste mehr oder weniger oft, abhängig von der Systemsicherheit des Einzelnen, auch die gewöhnliche Schrift eingesetzt werden. Das mag ein Grund gewesen sein, den Gesamttext des Briefes nicht einem tachygraphischen „Einzelkämpfer" allein zu überlassen, sondern ihn auf zwei (oder mehr) Schreiber aufzuteilen.

Dieses „Mehrmann‑Kurzschriftverfahren"[38] wurde zwar auch im 19. Jahrhundert beibehalten, das System Ramsay dürfte man aber mit größter Wahrscheinlichkeit aufgegeben haben. Es passte nicht mehr in eine Zeit, in der sich die Stenographie auf dem Kontinent voranentwickelte, zwar zunächst noch geometrisch, aber schon orientiert an der Taylor-Bertin'schen Kurzschrift. Namentlich Mosengeil und Horstig traten hervor und fanden auch in Österreich Beachtung. Vor allem der Horstig-Bearbeiter Josef Nowak (1830), der in seiner 2. Auflage von 1834 bereits einen gewissen Abstand von der englisch-französischen Schule gewann, konnte den meisten Erfolg verbuchen.[39] Weiterhin wurde Johann Kaspar Danzer (Das allgemeine System der Stenographie etc., 1800/01) für einige Zeit in Wien unterrichtet. Gabelsberger schließlich, der große Neuerer, wurde in Österreich, wie schon erwähnt, ab 1840 durch Ignaz Jakob Heger bekannt gemacht und propagiert – der Meister sprach anerkennend von seinem „österreichischen Apostel".[40]

Wie sich das alles bei den Schnellschreibern der Ziffernkanzlei niederschlug, welchem System sie in diesen Jahrzehnten zuneigten, ob sich der eine oder andere bereits mit Gabelsberger befasste (wobei die Redezeichenkunst für Kanzleizwecke nicht unbedingt als geeignet erschienen sein muss), das alles wüssten wir gern, aber es ist mangels irgendwelcher stenographischer Reliquien nicht mehr zu klären.

Über diesem Ungenügen steht jedoch die erfreuliche Erkenntnis, dass die Stenographie als solche, ehe sie auf dem Kontinent zu florieren begann, ihren Nutzen im Wiener Schwarzen Kabinett schon lange bewiesen hatte.

[1] Bruno Emil König, Schwarze Cabinette. Eine Geschichte der Briefgeheimniß-Entheiligungen, Perlustrationen und Brieflogen, Berlin u. Leipzig, 2. Aufl. 1899 [veränderter Titel gegenüber der Erstausg. von 1875].

[2] Eugène Vaillé, Le Cabinet Noir, Paris 1950.

[3] René Havette, Ein französischer Geschwindschrifterfinder und Friedrich der Grosse [sic!], in: Archiv für Stenografie 54 (1902), S. 305–307.

[4] Harald Hubatschke, Die amtliche Organisation der geheimen Briefüberwachung und des diplomatischen Chiffrendienstes in Österreich. (Von den Anfängen bis etwa 1870), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 83 (1975), S. 352–413, hier S. 398.

[5] Ein Beispiel eines von Frankreich bestochenen Logisten, der nach der Enttarnung in Wien zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, bei S. Grillmeyer [Anm. 15], S. 121.

[6] Genaueres darüber sowie über diverse nachgemachte Siegelstempel, die man einsetzte, bei: Harald Hubatschke, Ferdinand Prantner (Pseudonym Leo Wolfram): 1817–1871: die Anfänge des politischen Romans sowie die Geschichte der Briefspionage und des geheimen Chiffredienstes in Österreich, Dissertation Wien 1975, Bd. 5, S. 1276 ff. [Prantner war hauptberuflich Ziffernbeamter.]

[7] Zitiert nach Klaus Beyrer, Die Schwarzen Kabinette der Post, in: Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix (Hg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, Göttingen 2007, S. 45–60, hier S. 59.

[8] H. Hubatschke [Anm. 6], S. 1131. – Vgl. Th. Szabó, Art. „Botenwesen. I. Allgemein. Westliches Europa", in: LexMA Bd. 2 (1983), Sp. 484–487.

[9] Siegfried Grillmeyer, Habsburgs langer Arm ins Reich. Briefspionage in der frühen Neuzeit, in: Klaus Beyrer (Hg.), Streng geheim. Die Welt der verschlüs­selten Kommunikation, Heidelberg 1999, S. 55–68, hier S. 55 mit Belegen.

[10] Interzepte nannte man die fertiggestellten Abschriften der abgefangenen Briefe.

[11] Eduard Brand, Gabelsberger im Lichte seiner Briefe an Heger, in: Bericht über die Thätigkeit des Bielitzer Gabelsberger Stenographenvereins im Vereinsjahre 1893/94, Bielitz 1894, S. 13–16, hier S. 14.

[12] Aloys Meister, Die Anfänge der modernen diplomatischen Geheimschrift. Beiträge zur Geschichte der italienischen Kryptographie des XV. Jahrhunderts. Paderborn 1902, S. 22.

[13] H. Hubatschke [Anm. 6], S. 1314. – Siehe auch die Kurzbiographie über Kronenfels bei F. Reinöhl [Anm. 24], S. 345 f. – Man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass die Ziffernbeamten seit jeher durch außerplanmäßige Remunerationen und andere Vergünstigungen privilegiert waren, u. a. durch kostenfreie Wohnungen in der Wiener Stallburg, in der sich auch die Diensträume der Kanzlei befanden. Die Medaille hatte allerdings eine Kehrseite. Bei B. E. König [Anm. 1, Ausgabe 1875, S. 38] heißt es dazu, wenn auch überspitzt: Die Ziffernbeamten konnten „mit ihren Familien in Ueberfluß leben ... aber man behandelte sie mehr als Staatsgefangene denn als Beamte. Die Polizei verlor sie nie aus dem Auge ... Man zwang sie, mit den Beamten der Kanzlei und des kaiserlichen persönlichen Kabinetts eine abgeschlossene Gesellschaft zu bilden".

[14] Josef Karl Mayr, Metternichs geheimer Briefdienst. Postlogen und Postkurse (Inventare österreichischer staatlicher Archive. V: Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 3), Wien 1935, S. 31.

[15] Siegfried Grillmeyer, Habsburgs Diener in Post und Politik. Das „Haus" Thurn und Taxis zwischen 1745–1867, Mainz 2005, s. insb. Kap. 4.1 „Zwischen Kaiser und Fürsten: Postregal und ‚Geheimer Dienst'", S. 111–125.

[16] H. Hubatschke [Anm. 6], S. 1245.

[17] Moritz Bermann, Das schwarze Cabinet oder Mysterien der Polizei. Historischer Roman, Wien 1873.

[18] Franz Stix, Zur Geschichte und Organisation der Wiener Geheimen Ziffernkanzlei (Von ihren Anfängen bis zum Jahre 1848), in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 51 (1937), S. 131–160, hier S. 137, Anm. 1.

[19] Es entstand 1853 als „Sektion für Chiffrewesen und translatorische Arbeiten", angesiedelt im Außenministerium und aufrechterhalten bis 1870.

[20] Franz Seraphim von Hölzl, Concept eines Denkbuches der k.k. geheimen Kabinetskanzley 1716–1845. Zugleich als Eide‑Protokoll dienend. – Hölzl wurde 1809 vereidigt; auch Vater Josef und Großvater Paul waren Ziffernbeamte.

[21] F. Stix [Anm. 18], S. 132.

[22] K. Beyrer [Anm. 7], S. 53.

[23] Das hohe kryptologische Wissen dieser Spezialkräfte und ihr täglicher Umgang mit den damals angewandten Verschlüsselungsmethoden führten zu einer phänomenalen Leistungsfähigkeit. „So nimmt es nicht wunder, wenn manche Dechiffreure schließlich chiffrierte Texte beinahe so geläufig zu lesen imstande waren wie Klartext." (H. Hubatschke [Anm. 4], S. 383.) – Zuweilen gelangte man auch auf ganz dunklen Wegen in den Besitz der Geheimschriftschlüssel ausländischer Gesandter. Deren Briefe konnten dann umso einfacher mitgelesen werden.

[24] Fritz Reinöhl, Geschichte der k. u. k. Kabinettskanzlei, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Ergänzungsband VII, Wien 1963, S. 318.

[25] Das Sprachgenie Joseph Schneid (1828 vereidigt) beherrschte nicht weniger als 19 Sprachen in Wort und Schrift (F. Stix [Anm. 18], S. 140 u. 154). Gustav von Ohms im Nachfolgeinstitut, der Sektion für Chiffrenwesen, brachte es auf 15 Sprachen (H. Hubatschke [Anm. 4], S. 408).

[26] Beide Zitate bei F. Stix [Anm. 18], S. 139.

[27] J. K. Mayr [Anm. 14], S. 21. – Vgl. auch unsere Anm. 38.

[28] H. Hubatschke [Anm. 6], S. 1279.

[29] Einige dieser corpora delicti [denn das waren sie ja im Grunde], die überlebt haben, bilden heute eine wertvolle historische Quelle, etwa über die Zeit vom September 1814 bis Juni 1815, als die europäischen Herrscher nach Napoleons Untergang in Wien zusammenkamen. Ihr Schriftverkehr wurde in einem Akt größter Kraftanstrengung durch die Ziffernkanzlei überwacht.

[30] F. Stix [Anm. 18], S. 132 f.

[31] Ebd., S. 139, und ebenso J. K. Mayr [Anm. 14], S. 21.

[32] Bd. 22 (1835), S. 506 (Stichwort Tachygraph) u. S. 108 (Stichwort Stenographie).

[33] Chr. Johnen, Die geometrische Kammerstenographie Deutschlands und ihre Vertreter, in: Archiv f. Stenogr. 54 (1902), S. 211–222, hier S. 218. – Zu August Winter vgl. auch den Aufsatz von Reiner Kreßmann, Zum 200. Geburtstag von August Winter, in: NStPr 53/4 (2004), S. 97–104.

[34] David Kahn, The Codebreakers. The Story of Secret Writing, New York 1967, S. 163.

[35] Ich habe darüber im Archiv (Bayreuther Blätter) 50 (2008), S. 3 ff., berichtet.

[36] Alfred Junge, Gerhard van Swieten als Stenograph, in: Archiv f. Stenogr. 53 (1901). S. 13–22. – Über einen anderen Holländer und dessen aufgefundenes Stenogramm aus den ersten Jahrzehnten des 18. Jh. s. Arthur Mentz, Ramsays Tacheographia in Holland, in: Deutsche Kurzschrift 2 (1936), S. 76–78.

[37] Monika Disser, Das altgeometrische Kurzschriftsystem Ramsay an der Hohen Karlsschule, in: Archiv (Bayreuther Blätter) 47 (2005), S. 67–74.

[38] So schreibt H. Hubatschke [Anm. 4], S. 379. Doch sollte klar sein, dass von einer Schreibrunde im klassischen Sinne hier nicht die Rede ist; auch nicht von der eigentümlichen Abart, dem „stenodigraphischen" Verfahren [s. Chr. Johnen im Archiv f. Stenogr. 55 (1903), S. 243 f.]. Denn die schreibenden Kollegen nahmen gleichzeitig verschiedene Teile des Briefes auf – ein „Kunststück", wie Mayr richtig ausdrückt.

[39] Eine Schriftprobe zu der Ausgabe von 1834 bei Karl Faulmann, Histor. Grammatik der Stenographie, Wien 1887, S. 196. – Nowaks System wurde über das in Braunschweig erschienene „Archiv für Natur, Kunst, Wissenschaft und Leben" [17 (1849) S. 52–56] auch in Deutschland bekannt. In späteren Jahren legte er eine weiter verbesserte Bearbeitung vor und war somit sicherlich kein unbedeutender Mann der Kurzschrift. Umso weniger verständlich, dass er von Rudolf Bonnet (Männer der Kurzschrift, 572 Lebensabrisse von Vorkämpfern und Führern der Kurzschriftbewegung, Darmstadt 1935) übergangen wird.

[40] Vgl. Anm. 11. E. Brand. S. 15 (siebenter Brief).