VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

aus: NStPr 62/1 (2014) 5-13

1. Teil: Biografische Brüche am Ende der ersten deutschen Demokratie

Der Zeitenwechsel von der NS-Herrschaft in Deutschland zur funktionierenden Demokratie der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren medial vielfach Niederschlag gefunden. Mit den Filmen Der Bunker von 1981 und Der Untergang von Bernd Eichinger aus dem Jahre 2004 wurde insbesondere die Endzeit des NS-Regimes in den Fokus genommen. Die Stenografen, von denen die meisten bis zum Ende im Dienste des NS-Regimes standen und einige sogar in nächster Nähe zu dessen Entscheidungsträgern agierten, spielen, wenn überhaupt, in allen Filmen und Berichten[1] nur eine untergeordnete Rolle. So ist in der Datenbank der Gedenkstätte Deutscher Widerstand noch nicht einmal der Name des Stenografen verzeichnet, der beim gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ums Leben kam. Dies ist wohl ursächlich darauf zurückzuführen, dass sich zu Lebzeiten kaum einer der damaligen Stenografen über eigenes Erleben in der NS-Zeit näher geäußert hat.[2] Vielmehr stürzten sie sich schon gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder in die Arbeit und nahmen eine wichtige Funktion beim Wiederaufbau der Staatlichkeit in West- wie Ostdeutschland ein. Aber auch zur Arbeit in den Anfangsjahren, zum Beispiel im Frankfurter Wirtschaftsrat, in den Landesparlamenten, bei den Ministerpräsidentenkonferenzen und im Parlamentarischen Rat, gibt es in unserer Verbandszeitschrift nur drei, größtenteils auf rein äußere Abläufe beschränkte Artikel.[3]

Zwar kann mittlerweile nicht mehr auf Aussagen von Zeitzeugen zurückgegriffen werden, doch sind wenigstens einige mündliche Überlieferungen von den Kollegen in entsprechenden Nachrufen auf die damals tätigen Stenografen in der Neuen Stenografischen Praxis festgehalten worden. Nicht nur diese, die wohl bisher noch nie zusammenhängend ausgewertet wurden, sondern auch Funde in mittlerweile zugänglichen Akten erlauben es, ein ganz neues Licht auf die Tätigkeit von Stenografen in der NS-Zeit und zu Beginn der Nachkriegsdemokratie zu werfen. Die Akten des Berlin Document Center (BDC), die von den Amerikanern nach der deutschen Wiedervereinigung an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben worden sind, geben vielfältige Hinweise auch für die Verflechtungen der Stenografen mit der NS-Diktatur. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist auch das 2002 erschienene Buch Witness to Barbarism des amerikanischen Chefanklägers im Lager Dachau, Horace R. Hansen, das bislang in Deutschland kaum rezipiert wurde.[4] Hier berichtet er lebhaft von den Erlebnissen in der NS-Zeit von fünf Stenografen aus dem „Führerhauptquartier" (FHQ), die sie in Gesprächen mit ihm im Herbst 1945 schilderten. Öffentlich zugänglich gemacht wurden von amerikanischer Seite nunmehr auch die Verhörprotokolle der acht zuletzt im FHQ tätigen Stenografen, in denen sie ihre Sicht auf Hitler und die NS-Herrschaft darstellten. Schließlich sind zum großen Teil auch die Personalakten derjenigen Stenografen zugänglich, die ab 1948 für den Frankfurter Wirtschaftsrat, den Parlamentarischen Rat, die Landtage, den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und für die Volkskammer gearbeitet haben.

Es soll deshalb versucht werden, einen Bogen vom Ende der Weimarer Republik über den Wandel von Parlaments- zu Regierungsstenografen in den 30er-Jahren und den Einsatz im Zentrum der deutschen Kriegsmaschinerie bis 1945 hin zu der Tätigkeit in parlamentarischen Gremien der Nachkriegszeit zu spannen.

Von der Weimarer Republik in die NS-Zeit

In den letzten Jahren der Weimarer Republik dampften Präsidialkabinette und schließlich in immer raschere Folge stattfindende Wahlen den regulären, von Ausschusssitzungen und Plenardebatten geprägten Parlamentsbetrieb im Reichstag sowie in den Ländern mehr und mehr ein. Damit verloren auch die damaligen Parlamentsstenografen ihr originäres Arbeitsfeld. In gewisser Weise als Vorbote der „neuen Zeit" kann wohl die Saalschlacht zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten im Preußischen Landtag am 25. Mai 1932 bezeichnet werden, bei der ein Stenograf schwer verletzt wurde. Es traf tragischerweise einen Stenografen jüdischen Glaubens, Paul Arenberg[5], der dann 1943 dem NS-Rassenwahn zum Opfer fallen sollte.

Die Weltwirtschaftskrise und die Auflösung des Preußischen Landtags 1932 brachten jedenfalls einen Rückgang der Zahl der Parlamentsstenografen schon bis Ende 1932 auf 100 – gegenüber 140 im Jahr 1930 – mit sich. Mit der Auflösung der Länder- und Stadtparlamente 1933/34 ist dann der nächste heftige Einschnitt für die Kammerstenografie in ganz Deutschland verbunden. Hoffte man nach dem Ermächtigungsgesetz zunächst nur auf eine zeitweise Unterbrechung der Arbeit, fürchtete man im Sommer 1934 gar eine völlige „Stillegung des größten Teils der bisherigen Arbeitsgebiete des Kammerstenographen"[6]. Die Dramatik der Situation wird deutlich an der Reduzierung der Zahl der Parlamentsstenografen bis Ende 1933 um die Hälfte auf nunmehr etwa 50.

Einigen Stenografen gelang es, sich im Zuge der Auflösung der Länder bis zum 1. April 1934 neue Betätigungsfelder zu suchen: Aus der Landesanstalt für Kurzschrift in Bayern, aus dem Vorläufigen Wirtschaftsrat und aus dem Stenographischen Landesamt in Braunschweig wechselten insgesamt vier Stenografen in den Dienst des Reichsministeriums der Justiz. Politisch „Unzuverlässigere" dagegen traf die volle Wucht des • 6 „Vereinfachung der Verwaltung" des Gesetzes „Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums": Sie wurden zwangsweise in den Ruhestand versetzt, was gerade bei jungen Kollegen wie Erich Niehls mit elf Dienstjahren zu extrem niedrigen Ruhestandsgehältern führte.[7] Neben ihm waren aus dem Preußischen Landtag August Kelch mit Wirkung vom 1. Juli 1933 und Eduard Burki mit Wirkung vom 1. Januar 1934 von dieser Maßnahme betroffen. Vom Stenographischen Landesamt in Dresden und damit dem Stenografischen Dienst des Sächsischen Landtags traf es 1933 Dr. Friedrich David[8] mit 51 Jahren und mit Wirkung vom 1. April 1934 Dr. Rudolf Dowerg[9] mit 55 Jahren.

Neben dem schon erwähnten Stenografen Paul Arenberg bekamen noch weitere Stenografen den Rassenwahn des NS-Regimes zu spüren: Dr. jur. Fritz Faß[10], der schon 1932 seinen Dienst zugunsten seiner Anwaltstätigkeit quittiert hatte, durfte auch diese alsbald in Deutschland nicht mehr ausüben und flüchtete zunächst nach Belgien und dann nach Mailand. Während des Krieges wurde er in Italien in einem Internierungslager auf das Kürschnerhandwerk umgeschult; zwar gelang ihm nach Kriegsende noch die Emigration zu seiner Familie nach Brasilien, aber kurz darauf verstarb er. Und auch vor altgedienten Kräften machte die Verfolgung nicht halt. So wurde dem 81-jährigen ehemaligen Vorsteher des Stenografenbüros des Reichstags Professor Dr. Eduard Engel[11] die Pension zusammengestrichen und er verlor das Anrecht auf Tantiemen aus dem Vertrieb seiner Bücher[12], sodass er jeglicher finanziellen Absicherung verlustig 1938 verarmt starb.

Der Untergang des österreichischen Parlamentarismus

Besonders schlimm wurde es für die Kollegen aus dem österreichischem Parlament: Schon nach „dem unglückseligen 4. März 1933, an dem wegen einer Meinungsverschiedenheit über die Auslegung einer Geschäftsordnungsbestimmung die drei Präsidenten ihr Amt niederlegten und dadurch der damaligen Regierung den Vorwand lieferten, den Nationalrat und den Bundesrat zu beseitigen und durch ein auf ständischer Grundlage beruhendes, aus ernannten Mitgliedern bestehendes Haus der Bundesgesetzgebung zu ersetzen"[13] wurden über die Hälfte von den einst zwanzig Stenografen der Volksvertretung der Ersten Republik nicht mehr gebraucht, da außer den Haushaltsberatungen keine parlamentarischen Debatten im neugeschaffenen Bundestag vorgesehen waren und die Protokolle der nichtöffentlichen Sitzungen der vorberatenden Organe nur maschinenschriftlich niedergelegt wurden.

Nach dem „Anschluss" Österreichs verschärfte sich die Situation auch für die neun übriggebliebenen Stenografen entscheidend; nur zwei von ihnen durften im Amt verbleiben; sie wurden den Reichstagsstenografen zugeteilt. Zugleich nahm auch hier der nationalsozialistische Rassenwahn seinen Lauf: Der 1934 zwangspensionierte Stenograf Dr. Theodor Alt,[14] der in Wien verblieb, musste sich, nachdem ihm aus rassistischen Gründen die Pension zusammengestrichen worden war, als Hilfsarbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen und war ständig von Verschickung bedroht. Das gleiche schlimme Schicksal wie der preußische Landtagsstenograf Paul Arenberg erlitt der letzte Leiter des Dienstes, Hofrat Josef Kafka,[15] der im Juni 1942 in das Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk deportiert wurde. Der langjährige Direktor des Stenografenbüros (bis 1923), Hofrat Josef Fleischner (1863-1943)[16], wurde im August 1942 als 79-Jähriger (!) nach Theresienstadt deportiert, wo er im Januar 1943 umkam; dass er schon 1894 seinen jüdischen Glauben abgelegt hatte, spielte für den Rassenwahn bekanntlich keine Rolle. Im August und Oktober 1942 wurden Rat Julius Max Bernblum (1880–1942) und Regierungsrat Robert Gelles (1882–1942) ebenfalls nach Maly Trostinez deportiert und gleich nach der Ankunft umgebracht; auch Rat Dr. Berthold Oplatek (1888-1944) wurde im Oktober 1942 zunächst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert, wo er zwei Jahre später umkam. Durch Emigration retteten Dr. Julius Sorter († vor 48 in New York), Dr. Eduard Eisler († vor 48 in England), Dr. Hugo Schoszberger (nach England, dort Mitarbeiter einer Rechtsanwaltskanzlei) und Dr. Theodor Brüll (nach Argentinien, dort Chefredakteur des Argentinischen Tageblattes in Buenos Aires) zwar ihr Leben, mussten sich aber von neuem überhaupt erst einmal wieder eine Existenz aufbauen.

Gleichschaltung stenografischer Organisationen

Die ab 1933 einsetzende Gleichschaltungswelle traf mit anderen stenografischen Organisationen auch den 1908 gegründeten Verein Deutscher Kammerstenographen. Nach dem Verbot eigener Beamtenorganisationen außerhalb des „Reichsbundes der deutschen Beamten" wurde er am 30. September 1933 mit der Berufsvereinigung stenographischer Praktiker Deutschlands zur „Fachgruppe Verhandlungsstenographen in der Deutschen Stenographenschaft" mit Sitz in Berlin verschmolzen, die Rudolf Drews auf das „Führerprinzip" einschwören sollte. Den Streit um die Ausrichtung nahmen einige Verhandlungsstenografen zum Anlass, ihren Austritt aus der Fachgruppe zu erklären, und versuchten parallel, noch Nazi-näher in der „Deutschen Arbeitsfront" eine eigene berufsständische Vertretung zu verankern. Aufgrund dieser Schwierigkeiten legte Drews 1935 sein Amt nieder und der Reichstagsstenograf Ludwig Krieger[17] wurde neuer „Fachgruppenführer". Ende 1933 erschien auch die letzte Ausgabe der „Stenographischen Praxis", an ihre Stelle trat ab Sommer 1934 ein außer der ersten Ausgabe nur im Vervielfältigungsverfahren hergestelltes „Mitteilungsblatt der Fachgruppe Verhandlungsstenografen", das bis 1944 erschien.

Im Gegensatz zu den meisten Kollegen aus anderen ehemaligen Landes- und Stadtparlamenten[18], die sich beruflich umorientieren mussten, wurde das um die Hälfte seines Personalbestandes reduzierte Stenografenbüro des ehemaligen Preußischen Landtags in die am 1. April 1934 ins Leben gerufene Stiftung Preußenhaus überführt. Die verbliebenen jeweils fünf Beamten und Angestellten wurden zusammen mit den zehn Beamten und zwei Hilfsstenografen des Reichstags fortan hauptsächlich für Einrichtungen des NS-Regimes eingesetzt. Mit Eintritt in den Ruhestand des vormaligen Leiters des Stenografenbüros des Preußischen Landtags, Alfred Burghoff[19], am 1. April 1938 erfolgte schließlich die gänzliche Eingliederung der „preußischen Regierungsstenografen"[20] in das Reichstagsstenografenbüro: Die verbliebenen vier Beamten, die sich allesamt noch des Systems Stolze bedienten, wurden zu Reichstagsstenografen ernannt, und die Stenografenanwärter, die nach dem System Stolze-Schrey schrieben, wurden damit nach zum Teil über zehn Jahren Wartezeit zu Hilfsstenografen befördert.

In die NSDAP eingetreten sind von den über 20 Stenografen, die das Stenographenbüro des Reichstags seit April 1938 umfasste, bis 1939 laut Aktenlage nur sechs. Bis 1933 waren sogar nur drei Stenografen, zwei vom Preußischen Landtags und einer vom Reichstag, in die NSDAP eingetreten, nämlich Bruno Gnauck[21] und Dr. Kurt Haagen sowie Dr. Kurt Peschel; auf die beiden Letztgenannten wird im Zusammenhang mit dem Stenografischen Dienst im Führerhauptquartier noch näher eingegangen. Zu den „Mai-Gefallenen", also denjenigen, die nach der Aufnahmesperre 1937 in die NSDAP eingetreten sind, gehörte neben dem schon erwähnten Ludwig Krieger nur Dr. Rolf Conrad.[22] Als letzter wurde schließlich Karl Thöt[23], bis 1938 noch Stenografenanwärter und seit 1935 Parteianwärter in seiner Heimat, im „Gau Saarpfalz", im Mai 1939 NSDAP-Mitglied.

Tätigkeit im Umfeld Hitlers

Neben der offiziellen Tätigkeit in Parlamenten gab es auch zur damaligen Zeit freiberufliche Stenografen sowie Kammerstenografen, die nebenberuflich tätig waren. Sie hielten schon vor November 1932 Auftritte Hitlers, der ja erst im November 1932 Mitglied des Reichstags wurde, in verschiedenster Form fest. Ein besonderer Fall war hierbei die 1931 von Hitler selbst in Auftrag gegebene wörtliche Protokollierung seiner Zeugenaussagen in einem Prozess gegen Goebbels, der als Parteisekretär von Berlin fast regelmäßig vor Gericht erscheinen musste. Hitler selbst kommt auf diesen Sachverhalt sogar noch im Dezember 1942 in einem Privatgespräch zu sprechen:

Ich habe mich früher schon öfter der Stenografen bedient. Noch in der Kampfzeit im Jahre 1931 oder 1932 wurde ich in einem Prozeß gegen Dr. Goebbels in Berlin als Zeuge vernommen. Der Rechtsanwalt – ein Halbjude – traktierte mich an diesem Tage von morgens 9 Uhr bis abends 7 Uhr mit einer Frage nach der anderen, um mir eine Falle zu stellen. Und ebenso wußte ich, daß die damalige Presse nur darauf wartete, mir anhand meiner Aussagen alles Mögliche zu unterstellen, um eine Handhabe gegen mich zu haben. Da nun Gerichtsprotokolle von der Verhandlung eines Tages einen Umfang von höchstens nur 3 bis 4 Seiten haben, daraus also nichts Genaues zu entnehmen ist, habe ich mir für diesen Tag zwei Stenografen aus dem Bayerischen Landtag mitgenommen, und diese Herren haben mir eigentlich die Freiheit gerettet.[24]

Bezeichnend ist, dass Hitler hier nicht auf Berliner Verhandlungsstenografen, von denen es neben den im Reichstag und im Preußischen Landtag tätigen noch eine ganze Reihe Freiberufler gab, zurückgriff, sondern auf bayerische Landtagsstenografen. Um wen es sich hier handelte, versuchte Thöt vergeblich von Hitler in Erfahrung zu bringen.[25] Nach den bisherigen Aktenfunden könnte es sich dabei um die beiden bayerischen Landtagsstenografen gehandelt haben, die 1933 in den Justizdienst wechselten. Bei dem einen handelte es sich um Max Dorn[26], über den der damaligen Leiter der Landesanstalt für Kurzschrift in Bayern in einem Brief vom 17.01.1934 schreibt,

daß Herr Dorn im Stenographenbüro allgemein als Spezialstenograph der NSDAP bekannt war. Seit dem Hitler-Prozeß war Kollege Dorn ständig zu allen wichtigeren Veranstaltungen der Partei, soweit sie in München oder Umgebung stattfanden, hinzugezogen worden, so daß wir ihn, wenn er mitunter an dieser oder jener Einrichtung der Partei Kritik übte, als mehr oder minder der NSDAP nahestehend erachteten. Dieser Eindruck konnte aber nicht nur bei uns entstehen; die Tatsache, daß bei den Verhandlungen der NSDAP ein amtlicher Stenograph zugegen war, wurde der breiteren Öffentlichkeit schon durch die ständige Erwähnung dieser Tatsache in den Berichten des ‚Völkischen Beobachters' bekannt, und es erschien einmal auch ein Artikel in der ‚Münchener Post', der diese Mitwirkung eines Beamten als einen unhaltbaren Zustand kennzeichnete und auch Abhilfe verlangte.[27]

Bei dem zweiten Stenografen ist die Indizienlage schwieriger. Hierbei könnte es sich um Dr. Maximilian Meidinger[28] gehandelt haben, der 1939 Nachfolger von Dorn als persönlicher Adjutant von Reichsminister Frank wird. Er tritt der NS-Bewegung allerdings erst ab 1933 nahe und engagiert sich zunächst bei der SA, dann bei der SS und wird schließlich 1937 auch NSDAP-Mitglied.

Das Entscheidende bei dem Prozess in Berlin 1931/32 war für Hitler jedenfalls, dass ihn damals der Verweis auf seine wortwörtlich wiedergegebenen Aussagen vor einer Anklage bewahren konnte:

Es ist genauso gekommen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Die Presse hat an den folgenden Tagen meine Aussagen völlig entstellt wiedergegeben mit dem Ziel, eine Anklageerhebung gegen mich herbeizuführen. Daraufhin habe ich mich dem Gericht gegenüber auf die stenografische Niederschrift dieser beamteten Stenografen berufen, an der nicht zu rütteln war, und durch dieses unwiderrufliche Zeugnis ist es dann auch nicht zu einer Anklageerhebung gekommen.[29]

Wohl auch aufgrund dieser positiven Erfahrungen mit Stenografen eröffneten sich für die verbliebenen Stenografen entgegen den zunächst gehegten Befürchtungen nach der Machtergreifung ganz neue Tätigkeitsfelder. Die Stenografen des Reichstags und des ehemaligen Preußischen Landtags protokollieren außer den Pro-Forma-Sitzungen des Reichstages viele Sitzungen von neu geschaffenen staatlichen Institutionen und parteinahen Organisationen in dem als polykratisch zu bezeichnenden Herrschaftsgefüge der NS-Diktatur sowie NS-Schauprozesse;

[1] Vgl. die Lebenserinnerungen von Hitlers Sekretärin Traudl Junge: P. Galante/E. Silianoff, Last witnesses in the bunker, translated from the French by Jan Dalley, London 1989. Eine Deutsche Ausgabe erschien erst 2002: Vgl. T. Junge/M. Müller, Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben, München 2002, sowie von seinem Leibwächter Rochus Misch: R. Misch, Der letzte Zeuge. Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter, Zürich/München 2008, und vom Adjutanten für die tägliche militärische Lagebesprechung im Führerbunker, später Generalleutnant und stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr: B. Freytag von Loringhoven/F. d'Alançon, Mit Hitler im Bunker. Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier Juli 1944 – April 1945. Aus dem Französischen von Michael Erbe. Berlin 2005.

[2] Vgl. zur Arbeit im Führerhauptquartier: G. Herrgesell, Der Stenographische Dienst im Führerhauptquartier, in: NStPr 33/1 (1985) 1–11.

[3] Vgl. G. Herrgesell, Der Stenographische Dienst des Parlamentarischen Rates und des 1. Deutschen Bundestages, in: NStPr 22/3 (1974) 53–57; H. Ferdinand, Stenographen im Strom der Zeitgeschichte. Aus der Vorgeschichte und den Anfängen des Stenographischen Dienstes im Bundestag, in: NStPr 38/1 (1990) 1–17; Ders., Im Vorfeld des Grundgesetzes – Ein Augenzeugenbericht, in: NStPr 49/2 (2000) 33–39.

[4] Horace R. Hansen, Witness to Barbarism, St. Paul/Minnesota 2002; als pdf: http://www1.umn.edu/humanrts/edumat/witness/WitnessToBarbarism.pdf (20.11.2013).

[5] Paul Arenberg (*12.05.1878 in Berlin, † 10.03.1943 im Vernichtungslager Auschwitz) – Vgl. L. Krieger, Unsere Toten der letzten 10 Jahre, in: NStPr 1/2 (1953) 49; R. Conrad, Paul Arenberg, in: NStPr 6/2 (1958) 62–64.

[6] R. Drews, Die gegenwärtige Lage des Berufsstandes der Kammerstenographen in Deutschland, in: Mitteilungsblatt 1934/1 3.

[7] Erich Niehls (22.08.1886 in Berlin, †25.06.1969 in Rosenheim) 1905 Abitur an der Friedrichwerderschen Oberrealschule, Jurastudium in Berlin, 1912 Stenografensekretär beim Preußischen Abgeordnetenhaus, 1914-18 Kriegsdienst als Stenograf u.a. in Kiew, 1922 Landtagsstenograf, 1933 Zwangspensionierung, zeitweise Rittergutsverwalter, 1934–1956 beim Deutschen Evangelischen Missionsrat, unterbrochen durch Zwangsarbeit bei der Organisatin Todt 1944/45. – Vgl. M. Günther, Erich Niehls zum 80. Geburtstag, in: NStPr 14/3-4 (1966) 87–92; Ders., Erich Niehls †, in: NStPr 17/3 (1969) 67.

[8] Friedrich David (*1881 Krofdorf bei Gießen, † 1964), Vgl. N.N., Dr. Friedrich David 75 Jahre alt, in: NStPr 4/4 (1956) 131f. L. Kr[ieger], Dr. Friedrich David †, in: NStPr 12/2-3 (1964) 64–68

[9] Rudolf Dowerg (*28.01.1879 in Sommerfeld/Brandenburg, † 26.01.1948 in Pirna), 1898 Abitur, ab 1899 Hilfsstenograf im Sächsischen Landtag, gleichzeitig Studium der Naturwissenschaften und der Mathematik auf Lehramt an der Technischen Hochschule Dresden und der Universität Leipzig, 1902 Promotion, 1903 Staatsprüfung für das Höhere Lehramt und Festanstellung beim Königlich Stenographischen Institut in Dresden. – Vgl. L. Krieger, Unsere Toten der letzten 10 Jahre, in: NStPr 1/1 (1953) 20f., R. Kreßmann, Zum 125. Geburtstag Dr. Rudolf Dowergs, in: Archiv für Stenographie, Textverarbeitung, Bürotechnik 46/4 (2004) 99-102; 2004 auch als Broschüre in erweiterter Fassung unter dem Titel „Dr. Rudolf Dowerg (1879–1948)" erschienen.

[10] Fritz Faß (*20.02.1890 in Neuwied/Rhein, † 1945 Sao Paulo), nach Abitur am Wilhelms-Gymnasium in Berlin 1909 Jurastudium an der Berliner Universität, 1911 Stenografensekretär im Preußischen Landtag, 1914 Referendarexamen und Hilfsstenograf, 1922 Assessor, 1928 Landtagsstenograf. – Vgl. L. Krieger, Unsere Toten der letzten 10 Jahre, in: NStPr 1/2 (1953) 52.

[11] Eduard Engel (*12.11.1851 in Stolp, † 23.11.1938 in Bornim), 1870–1873 Studium der Indogermanistik und Philologie in Berlin, 1874 Promotion in Rostock, 1871 Hilfsstenograf im Preußischen Abgeordnetenhaus und von Anfang an im Reichstag, 1882 stellv. Vorsteher, 1904 Pensionierung, 1903 Ernennung zum Professor in Berlin. – Vgl. Rubrik „Persönliches", Eduard Engel 80 Jahre, in: Stenographische Praxis 21/2 (1931/32) 40.

[12] Für diesen wertvollen Hinweis danke ich Prof. Dr. Reiner Kressmann.

[13] Th. Alt, Der Wiederaufbau des Wiener Parlamentsgebäudes, in: NStPr 4/2 (1956) 53.

[14] Dr. Theodor Rudolf Alt (*08.02.1878 in Konitz in Mähren, † 01.11.1959 in Wien), Gymnasium in Olmütz, Studien in Wien und Prag, 1898 Eintritt in das Stenografenbüro des Reichsrats, 1917 Revisionsstenograf, 1926 Regierungsrat und Redakteur der Parlamentskonferenz, 1934 zwangsweise Pensionierung, 1938 bis 1945 verfolgt und als Hilfsarbeiter eingesetzt, 1945 Leiter des Stenografenbüros des Nationalrats der Zweiten Republik. – Vgl. D. Hackl, Hofrat Dr. Alt †, in: NStPr 7/4 (1959) 144.

[15] Josef Kafka (*19.01.1878 Schlaggenwald/Horní Slavkov, † 1942 Maly Trostinez), Philosophiestudium an der Prager Universität, Kammerstenograph im Prager Landtag, 1906 im österreichischen Reichsrat, 1911 auch Redakteur der Reichsratskorrespondenz und der Neuen Freien Presse, 1926 Regierungsrat im Nationalrat, 1934 Leiter des Stenografenamtes, 1938 zwangspensioniert, 02.06.1942 Deportation. – Vgl. Österreichisches Biographischen Lexikon, Bd. 3 (1962) 172; Th. R. Alt, Hundert Jahre im Dienste der österreichischen Volksvertretung, Wien 1948, passim. U. a. aus diesem Buch auch die nachfolgenden biografischen Angaben.

des Parlaments der Republik Österreich Nr. 684 vom 26.07.2013: http://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2013/PK0684/index.shtml (17.12.2013). Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf das sehr empfehlenswerte Buch: J. Fleischner, Parlamentsgeschichten. Aus den Erinnerungen eines Stenographendirektors, Wien 1925.

[17] Ludwig Krieger (*16.02.1887 in Dresden, † 24.04.1974), 1907 Stenograf im Sächsischen Landtag, 1908 Hilfsstenograf und 1917 planmäßiger Stenograf im Reichstag, 1937 Eintritt in die NSDAP (später als „Mitläufer" entnazifiziert), 1941 Leiter des Stenografenbüros, 1. April 1945 Ernennung zum Oberregierungsrat, 1945-49 Stenograf und Dolmetscher, u.a. im Personalbüro bei amerikanischen Stellen in Dachau, 1949-1953 (formell bis 2/52) Leiter des Stenografischen Dienstes des Bundestages, Ehrenmitglied des Verbandes der Parlaments- und Verhandlungsstenografen. – Vgl. H. Ferdinand, Fünfzig Jahre im Dienst des Parlaments, in: NStPr 5/1 (1957) 23–28; M. Günther, Ludwig Krieger 80 Jahre, in: NStPr 15/1 (1967) 32–34, sowie K. Thöt, In memoriam Ludwig Krieger, in: NStPr 22/3 (1974) 62–70.

[18] Festangestellte Stenografen beschäftigten immerhin Barmen, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt/M., Hannover und München. Vgl. Carl Höhne, Wie werde ich ein tüchtiger Stenograph, Berlin 41923, 59.

[19] Vgl. R. Conrad, Alfred Burghoff †, in: NStPr 2/4 (1954) 164–166.

[20] Vgl. N.N., Das Stenographenbüro des Reichstags, in: Mitteilungsblatt der Fachgruppe Verhandlungsstenografen 1938/3, 33.

[21] Bruno Gnauck (*30.10.1881 in Berlin, † 23.03.1964 ebd.), 1900 Abitur am Leibniz-Gymnasium, Jurastudium, parallel Ausbildung an der Stenographischen Fachschule im Preußischen Abgeordnetenhaus, 1909 dort Hilfsstenograf, 1919 Landtagsstenograf, Mai 1933 NSDAP-Mitglied, 1938 Reichstagsstenograf – Vgl. R. Conrad, In memoriam Bruno Gnauck, in: NStPr 12/2-3 (1964) 68–73; BArch (ehem. BDC) PKD, Gnauck, Bruno, 30.10.1881.

[22] Rolf Conrad (*10.08.1899 in Stargard, † 20.02.1965 in Düsseldorf), 1918 Abitur an der Oberrealschule Berlin-Steglitz, ab 1919 Philosophiestudium in Berlin und Tübingen, 1925 Promotion, 1927 Stenografenanwärter beim Preußischen Landtag, 1937 Eintritt in die NSDAP, 1938 Hilfsstenograf beim Reichstag, Dezember 1944 Reichstagsstenograf und März 1945 Regierungsrat; nach Internierung Ende 1946 Rückkehr nach Berlin, als Presse- und Verhandlungsstenograf sowie Kaufmann tätig, 1949 stellv. Leiter des Stenografischen Dienstes im Düsseldorfer Landtag, 1951 erneute Ernennung zum Regierungsrat, 1961 Oberregierungsrat, 1962 Pensionierung. – Vgl. E. A. Rupprecht, Dr. Rolf Conrad im Ruhestand, in: NStPr 10/3-4 (1962) 117–120; M. Günther, Dr. Rolf Conrad †, in: NStPr 13/1 (1965) 19–24; BArch R 601/2188.

[23] Karl Thöt (*30.07.1906 in Saarbrücken, † 21.11.1984 ebd.), Philologie- und Geschichtsstudium, zunächst in Tübingen, dann in Berlin, 1925 Hilfsstenograf im Hessischen Landtag, 1927 Anwärter beim Reichstag, 1938 Hilfsstenograf, 1939 NSDAP-Mitglied, 1. Januar 1942 Ernennung zum Reichstagsstenografen, 1942 Stenograf im FHQ, 1947-49 Stenograf beim Wirtschaftsrat, 1949 Bundestagsstenograf, 1953 Oberregierungsrat, 1964 Regierungsdirektor, 1965 bis zur Pensionierung 1968 Leiter des Stenografischen Dienstes des Bundestages. – Vgl. L. Kr[ieger], Karl Thöt tritt in den Ruhestand, in: NStPr 15/2-3 (1967) 65–68; M. Günther, Karl Thöt gestorben, in: NStPr 32/4 (1984) 98–101; BArch R 601/2188.

[24] Vgl. Eintrag „Tagebuch Thöt" vom 25. Dezember 1942. Der Verbleib dieses Tagebuches, auf das etwa bei R. Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Hamburg u. a.. 1987, 444, Fn. 109, sowie bei H. Ferdinand, Stenographen im Strom der Zeitgeschichte, a.a.O., 13, Bezug genommen wird, ist leider unklar. Eine unvollständige Transkription bietet D. Irving, der wegen Holocaustleugnung mehrfach verurteilt wurde, auf seiner Homepage. Um der Gefahr des Missbrauchs für geschichtsrevisionistische Zwecke aus dem Weg zu gehen, werden nur solche Stellen des Tagebuchs zitiert, die unmittelbar stenografische Tätigkeit betreffen.

[25] Schon 11 Jahre später konnte selbst Thöt die Namen nicht herausfinden. In seinem Tagebuch führt er weiter aus: „Ich hatte den Führer zwischendurch bereits gefragt, ob er sich noch der Namen dieser beiden Herren erinnern könne, das würde uns interessieren, denn das müßten ja Kollegen von uns gewesen sein. Auf die Namen konnte er sich aber nicht mehr besinnen. Er meinte nur, das sei ihm sehr teuer gekommen, der Tag habe ihn 800 Mark gekostet!"

[26] Max Joseph Dorn (*06.07.1892, † 11/46 Lager Ludwigsburg), Abitur am Luitpold-Gymnasium, 1911–14 Kanzlist im Stenografischen Dienst des Bayerischen Landtags, 1915–1918 Frontkämpfer, Leutnant d. R., 1919 Landtagsstenograf, 1930 Regierungsrat bei der Landesanstalt für Kurzschrift, 1933 bis 1941 Adjutant von Reichsminister Hans Frank, Juni 1934 Landgerichtsrat, ab 1941 als Hauptmann d. R. zunächst an der Ostfront, dann bei der Abwehr Außenstelle München und Kontakt mit Widerstandsbewegung. – Vgl. V. Koppert, Unsere Toten der letzten 10 Jahre, in: NStPr 1/1 (1953) 21; BArch (ehem. BDC) PKB, Dorn, Max, 06.07.1892; BArch R 3001/54478.

[27] BArch R3001/54479, Briefwechsel zur Ernennung von Dorn zum Landgerichtsrat.

[28] Maximilian/Max Meidinger (*17.08.1903, † 01.10.1957), Jurastudium in München u. Würzburg, 1923–34 Stenograf im Bayerischen Landtag, 1933/34 Eintritt in die SA, 1934 in die SS, 1937 in die NSDAP, 1935 Staatsanwalt in München, ab Herbst 1939 zunächst als Stenograf, ab 1943 als Chef der Kanzlei im Amt des Generalgouverneurs in Krakau, 1945–1947 Internierung, 1948/49 festangestellter Stenograf im Parlamentarischen Rat, ab Juli 1949 im Bayerischen Landtag, zuletzt Oberregierungsrat. – Vgl. N. N., Dr. Maximilian Meidinger †, in: NStPr 5/4 (1957), 130–131; N. N., Bayerisches Landesamt für Kurzschrift. Personelles, in: Bayerische Blätter für Stenographie, 90/11 (1957), 157 f. Seine Tätigkeit im Generalgouvernement wird in beiden Nachrufen nicht erwähnt; vgl. hierzu BArch (ehem. BDC) PKI, Meidinger, Maximilian, 17.08.1903.

[29] Vgl. H. Ferdinand, Stenographen im Strom der Zeitgeschichte, a.a.O. (Fn. 3), 13-15; Aussagen Hitlers zitiert aus einem unveröffentlichten und unvollendeten Manuskript des Stenografen Karl Thöt; eine von unserem Kollegen Dr. Günter Ostermeyer gefertigte Abschrift lag dem Vf. vor.