VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

aus: NStPr Jg. 48 (1999), Heft 1, S. 21 f.

Erich Kästner gehört zu den bekanntesten deutschsprachigen Autoren dieses Jahrhunderts. Pünktlich zu seinem 100. Geburtstag am 23. Februar sind seine Werke in mehreren Ausgaben neu aufgelegt und herausgegeben worden. Aus vielerlei Beiträgen zu seinem Geburtstag geht hervor, daß Erich Kästner fleißig und schnell gearbeitet hat.

Wer weiß aber, daß er stenographierte? Er hat sicher keine Reden nachgeschrieben, benutzte aber die Kurzschrift beim Entwerfen seiner Werke und bei der Führung seiner Tagebücher. Ende 1995 schrieb der damalige, 1996 verstorbene Vorsitzende des Österreichischen Stenografenverbandes, Rudolf Seifert, Wien, für eine Festschrift des Deutschen Stenografenbundes anläßlich der Deutschen Meisterschaften in Stenographie und Maschinenschreiben in der Erich Kästner-Schule im südhessischen Bürstadt ein Grußwort, in dem er insbesondere auf den Namensgeber der Schule einging. 

Erich Kästner war ab 1967 Ehrenmitglied des Österreichischen Stenografenverbandes, der auch einige Seiten Originalstenogramm des Schriftstellers von diesem erhielt und sie heute noch besitzt.

Erich Kästner hat sich auch schon vor rund drei Jahrzehnten in einer Zeitschrift über die Stenographie geäußert: „Kann man die Stenografie lieben?" bzw. „Warum und zu welchem Ende lernen die Leute Stenografie?" Seine liebenswerten Ausführungen dazu geben wir hier auszugsweise weiter.

Wir wollen von denen absehen, die es tun, um Stenografen zu werden. Wer schwimmen lernt, bloß weil er Kapitän oder Matrose oder Schwimmlehrer zu werden gedenkt, hat sich unser Interesse verscherzt. Daß sich Demosthenes, im Lärm der Brandung wandelnd, Kieselsteine in den Mund steckt, fesselt uns gerade so lange, bis wir erfahren, daß er Redner werden wollte. Dies wissend, wundern wir uns nicht länger. Kurz, wen die innere oder die väterliche Stimme auf den dornigen Pfad der Stenografie treibt, damit er am Ende vereidigter Parlamentsstenograf oder Privatsekretär werde, dem gilt unsere Neugier nicht. Es ist richtig, daß Gabelsberger, Schrey, Stolze und die anderen Erfinder und Systematiker der Kurzschrift gerade jenen Unglücklichen helfen wollen und geholfen haben. Mit wenigen Strichen und Bögen in verschiedener Linienhöhe und Schriftstärke ist es seit rund hundert Jahren möglich, noch die rasanteste Rede wortwörtlich samt allen Platitüden und Sprachschnitzern festzuhalten. Der gespitzte Bleistift ist so schnell geworden wie das gespitzte Ohr. Der Redner kann seine Suada über den Hörer ausschütten wie einen Scheuereimer. Zweihundert Silben und mehr dürfen pro Minute aus seinem Munde herausfallen. Nichts geht verloren.

Neben den Menschen, die aus der Stenografie ein Gewerbe machen, gibt es noch andere, eine seltsamere und interessantere Gilde. Die Stenografie hat, so wunderlich es klingen mag, ihre Anbeter und Liebhaber. Sie stenografieren nicht ums liebe Brot. Sie treiben die Stenografie um ihrer selbst willen. Es hat keinen Sinn, meine Behauptung zu bezweifeln. Denn ich gehöre zu diesen merkwürdigen Leuten. Ich muß es also wissen. Was aber um alles in der Welt, ist denn an dieser Kritzelei liebenswert? Lustbetontes Stenografieren, geht das nicht ein bißchen weit? 

Ich erinnere mich noch recht gut, was mich seinerzeit unwiderstehlich zu Gabelsberger hinzog. Man konnte es das ,Geheimnis' nennen. Seit der Ausrottung des Analphabetentums, seit jeder lesen kann, ist alles Schriftliche entschleiert. Was wir niedergeschrieben haben, läuft vor aller Augen splitternackt herum Der Briefträger, der Zensor, die liebe Mutter - jeder, den's gelüstet, kann uns ins Herz blicken, als wär's eine Schaufensterauslage. Manche Knaben und junge Mädchen besuchen die Stenografiekurse aus Schamgefühl. Sie hüllen ihre ersten Liebesbriefe, Verse und Tagebuchkenntnisse in Hieroglyphen.

Diesen etwas anderen Beitrag zur Diskussion um die Notwendigkeit der Beherrschung einer kurzen Schrift wollten wir Ihnen zum Geburtstag des berühmten Schriftstellers nicht vorenthalten. Wir, die Stenographen, verneigen uns vor ihm, er hat sich mit diesen Bemerkungen in unser Herz geschrieben.