VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

aus: NStPr 57/2 (2009):

Während der Sommerpause des vergangenen Jahres hatte ich Gelegenheit, an einer Führung durch den Schwedischen Reichstag in Stockholm, gelegen auf den Inseln Riddarholmen und Helgeands­holmen, direkt neben Schloss Drottningholm, teilzunehmen. Einige Eindrücke möchte ich hier schildern.

Der Ursprung des Reichstages reicht bis in das Jahr 1435 zurück. In jenem Jahr fand die erste überlieferte Versammlung statt, zu der die führenden Männer des schwedischen Reiches unter freiem Himmel zusammenkamen. Doch es sollte noch bis zur Einführung des allge­meinen Wahlrechtes im Jahr 1921 dauern, bis der Reichstag aus ei­ner demokratischen Wahl hervorging. Jahrhundertelang setzte sich der Reichstag aus den vier Gesellschaftsständen – Adel, Klerus, Bür­ger und Bauern – zusammen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die­ses Ständeparlament durch den Zweikammerreichstag ersetzt, in den eine begrenzte Anzahl Männer aus der Bevölkerung die Abgeordne­ten wählte. 1971 erhielt der Reichstag eine einzige Kammer, arbeitet heute also nach dem Einkammersystem. Die beiden Kammern existieren heute noch. Sie sind durch eine Galerie miteinander verbunden, in der sich früher die Abgeordneten zwischen den De­batten trafen, die heute jedoch als Festsaal dient.

Das Reichstagsgebäude wurde 1905 eingeweiht. 1983 verband man das neue mit dem alten, halbmondförmigen Reichsbankgebäude. Sieben Gebäude des Reichstages sind durch unterirdische Gänge miteinander verbunden. Einer davon, die „Rennbahn", durch den die Abgeordneten zum Plenarsaal gelangen – bzw. rennen –, befindet sich unter der Brücke über dem Stallkanal, der den Mälarsee mit der Ostsee verbindet. Nach dem Signal zur Abstimmung, die per Button erfolgt, haben die Abgeordneten sechs Minuten Zeit, um in den Plenar­saal zu gelangen.

König Carl XVI. Gustav obliegt es, jeweils im Herbst das Sitzungsjahr zu eröffnen. Königin Silvia sowie weitere Mitglieder der Königsfamilie wohnen dieser Plenartagung ebenfalls bei.

Ungeachtet ihrer Fraktionszugehörigkeit sitzen die Abgeordneten im Plenarsaal nach Wahlkreisen geordnet. Der Reichstag umfasst in der laufenden Wahlperiode 349 Abgeordnete, die sich auf sieben Fraktio­nen verteilen: Konservative, Zentrumspartei, Liberale Volkspartei, Christdemokraten, Arbeiterpartei-Sozialdemokraten, Linkspartei so­wie Grüne. Die jetzige Regierung wird von der Allianz für Schweden, zu der die vier erstgenannten bürgerlichen Parteien gehören, mit Fredrik Reinfeldt als Premierminister gebildet. Um in den Reichstag einziehen zu können, muss eine Partei mindestens 4 % der Stimmen auf nationaler Ebene oder 12 % in einem Wahlbezirk erreichen. Eine Legislaturperiode dauert vier Jahre; die nächste Wahl findet am 19.09.2010 statt. Betrug der Frauenanteil im Jahr 1921 nur 5 %, so liegt er in dieser Wahlperiode bereits bei 47 %. Das derzeitige Durchschnitts­alter der 349 Abgeordneten beträgt 47 Jahre.

Im Frühjahr erlässt der Reichstag Gesetze, im Herbst finden vor allem die jährlichen Haushaltsberatungen statt. Reichstagspräsident Per Westerberg leitet, unterstützt von drei Vizepräsidenten, die Plenar­sitzungen. Er schlägt auch den vom Parlament zu wählenden Minister­präsidenten vor.

Die Sitzungsperioden dauern jeweils von September bis Dezember sowie von Januar bis Juni; es gibt jedoch auch einige Wochen ohne Sitzung. Montags ab 11:00 Uhr und dienstags ab 13:30 Uhr stehen die Großen Anfragen auf der Tagesordnung. Mittwochs findet ab 09:00 Uhr die Plenarsitzung statt. Donnerstags stehen wiederum ab 12:00 Uhr Große Anfragen auf dem Programm sowie von 14:00 bis 15:00 Uhr die Fragestunden, zu denen einmal im Monat der Premier­minister anwesend ist. Freitags werden nochmals Interpellationen beant­wortet.

Im Stenografischen Dienst arbeiten 20 Stenografen, die bei den Plenar­sitzungen jedoch nicht, wie hierzulande üblich, „paarweise" im Saal sitzen. Vielmehr nimmt ein Stenograf jeweils allein einen zehnminütigen Turnus stenografisch auf und überträgt ihn anschlie­ßend in den PC, wofür er drei Stunden Zeit hat.

Wurden bis 2008 von allen Plenartagungen sowie Anhörungen Tonband­aufzeichnungen gefertigt, so geschieht dies nunmehr digital, ergänzt durch eine Videoaufnahme. In den PC, der auf dem Stenografen­tisch im Plenarsaal steht, gibt der jeweils eingesetzte Mitarbeiter des Zentralbüros, der neben dem Stenografen sitzt, den Namen des Redners, die Nummer, die jede Rede bekommt, sowie den Tagesordnungspunkt ein, und er nimmt die Rede auf. Die Steno­grafen können dann an ihrem Arbeitsplatz auf diese Aufnahme zurück­greifen. Die „Rohfassung" des Protokolls ist am Abend des Sitzungs­tages fertig, das gedruckte Protokoll liegt zwei bis vier Wo­chen nach der Sitzung vor. Stenografiermaschinen werden noch nicht verwendet. Freiberufliche Stenografen werden in der Regel nicht einge­setzt.

Im Reichstag arbeiten 15 Ausschüsse, zum Beispiel der Bildungs­ausschuss, der Umweltausschuss und der Verfassungsausschuss, der die Amtsführung der Minister prüft und dessen Anhörungen üblicherweise im Fernsehen übertragen werden. Wöchentlich tagt der Ausschuss für EU-Angelegenheiten. In der unter Denkmalschutz stehenden Handbibliothek, in der die gebundenen Reichstags­protokolle untergebracht sind, tagt der Finanzausschuss. Durch­schnittlich finden in der Anhörungswoche bis zu zehn Anhörungen statt.

Die Reichstagsbibliothek ist als eine der wenigen Parlaments­bibliotheken der Welt für die Allgemeinheit zugänglich. Man kann dort Bücher ausleihen oder Reichstagspublikationen lesen; außerdem dient sie als Depotbibliothek für die EU und die Vereinten Nationen.