VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

aus: NStPr 56 (2008), Heft 2

Auch im Jahr 2007 unternahm die „Arbeitsgemeinschaft deutscher Stenographie-Systeme e. V." eine Reise nach Berlin, um an zwei bedeutende deutsche Stenografen ‑ Wilhelm Stolze (140. Todestag) und Leopold Arends (125. Todestag) ‑ in einer Gedenkveranstaltung am 8. Juni 2007 zu erinnern.

 


Wilhelm Stolze (1798 ‑ 1867)

Wilhelm Stolze wurde am 20. Mai 1798 in Berlin geboren. Ab 1809 besuchte er das Joachimthalsche Gymnasium. Sein Vater starb 1812. Von dieser Zeit an musste Wilhelm für den Unterhalt der Mutter und den eigenen sorgen; er gab Nachhilfestunden und erledigte im Auftrag schriftliche Arbeiten. Die umfangreichen Schreibarbeiten weckten in ihm das Interesse an einer Kurzschrift, auf die er durch einen Mitschüler aufmerksam gemacht wurde. Die Stenografie war zu dieser Zeit aber noch weitgehend unbekannt, denn kein Lehrer der Anstalt konnte ihm ein Lehrbuch nennen. Nach bestandener Reifeprüfung konnte der tüchtige junge Mann seinen Berufswunsch ‑ Studium der theologischen Wissenschaften ‑ nicht verwirklichen, da er mittellos war.

1817 nahm er bei der Berliner Feuerversicherungsanstalt eine Stelle an. Neben dieser Tätigkeit nutzte er die Zeit für den Besuch von Vorlesungen, hörte Vorträge und betrieb ein intensives Buchstudium.

Der erste Bezug zur Stenografie. Der Wunsch nach einer Kurzschrift trat durch die zunehmenden Schreibarbeiten wieder in den Vordergrund. 1820 erlernte er Mosengeils verbessertes System (1819). Darüber schreibt er in späteren Jahren: „Mosengeil war mein erster Lehrer der Stenographie; von ihm habe ich das Streben nach Genauigkeit gelernt." Von nun an widmet er alle Zeit, die ihm die trockenen Zahlen des Versicherungswesens noch lassen, der Kurzschrift und dem Studium der Sprachen. Eingehend beschäftigt er sich mit den geometrischen Kurzschriften von Horstig, Leichtlen und Stärk. Die Auseinandersetzung mit Gabelsberger führt ihn hin zur kursiven Stenografie. Letztlich war er mit keiner der Schriften so ganz zufrieden.

Nach seiner Vorstellung sollte die ideale Kurzschrift die Eigentümlichkeiten der Muttersprache berücksichtigen und dabei im höchsten Maße einfach und zweifelsfrei sein, wenn ihr Ziel in einer Volkskurzschrift gesehen werden soll. Dieses Ziel strebte er mit einer eigenen Kurzschrift an.

Im März 1838 hatte er die Grundzüge seines Systems fertig und war davon überzeugt, dass seine Vokalbezeichnung eine geniale Lösung sei. Die Brauchbarkeit seines Systems prüfte er dahin gehend, dass er sechs Bände der Weltgeschichte übertrug und so über ausreichendes Material zur Veränderung und Verbesserung seines Systems verfügte.

Sorge bereitete ihm, dass er nicht über die finanziellen Mittel, die für eine Veröffentlichung nötig waren, verfügte. Er wandte sich daher an das Kultusministerium und bat um Hilfe. In einem Schreiben vom 31. Dezember 1840 wurden ihm für eine Auflage von 1 000 Stück 282 Taler für zwei Jahre geliehen. Das „Theoretische praktische Lehrbuch der deutschen Stenographie für höhere Schulen und zum Selbstunterricht. Nach einer neuen Methode, welche Kürze und Vollständigkeit der Bezeichnung miteinander verbindet" erschien 1841 bei Nikolai in Berlin. Die Hoffnung, das System in den höheren Schulen eingeführt zu sehen, die Dr. Brüggemann, der Dezernent im Kultusministerium, in ihm erweckt und auf dessen Veranlassung er den Titel gewählt hatte, ging nicht in Erfüllung; nach Jahren hatte Stolze Gelegenheit zur Akteneinsicht. Da entdeckte er auch den Grund der unerfüllten Hoffnungen. Dr. Brüggemann hatte geschrieben, er könne nur dringend raten, Stolze eine Unterstützung zur Herausgabe seines Werkes zu gewähren; man werde auf diese Weise bei dem Feuereifer des Mannes durch eine einmalige Ausgabe und dadurch, dass man ihm Aussichten auf Einführung seines Systems in den Schulen eröffne ‑ die sich ja später nicht zu erfüllen brauchten ‑, das Ziel erreichen, sich tüchtige Stenographen zu beschaffen, ohne genötigt zu sein, wie andere Staaten regelmäßig dauernde Ausgaben dafür zu machen oder gar ein Staatsinstitut zu errichten. ‑ Da sah Stolze nachträglich, dass er Opfer des Staatsegoismus geworden war.

Stolze erbat und erhielt von der Schuldeputation Berlin die Erlaubnis, öffentlich Privatunterricht zu erteilen. Er unterrichtete Privatleute, hielt einige Kurse für Gymnasiasten, für Volksschullehrer und für Offiziere aus dem Generalstab. Die mit diesem Unterricht erzielten Einkünfte reichten allein nicht, neben dem täglichen Brot auch noch an die Rückzahlung der vom Kultusministerium geliehenen Summe zu denken. Er tilgt seine „Schulden" beim Ministerium ratenweise mit 60 und 80 Lehrbüchern seines Systems, die er einsendet und die auch angenommen werden. Er will kein Bettler sein, wenn man ihm das auch nicht zu halten braucht, was man zuvor versprochen.

Die Polytechnische Gesellschaft lässt sich für Stolzes Schrift gewinnen und stellt Schüler aus ihrem Kreise. Frühere Schüler Stolzes gründen am 24. Juni 1844 den ersten stenografischen Verein Deutschlands mit dem Namen „Stenographischer Verein zu Berlin".

1845 bewies das System Stolze seine praktische Brauchbarkeit als Parlamentsschrift beim Stenografieren der Verhandlungen des Rheinischen Provinziallandtags. Zur wahren Feuerprobe der Schrift Stolzes wurde das Jahr 1847. Der König hatte den Ersten Vereinigten Landtag nach Berlin berufen. Im stenografischen Büro waren neben Stolze fünf Stenografen aus dem „Stenographischen Verein" tätig. Die Unterbringung der Stenografen erfolgte in weiter Entfernung in einer Fensternische, verdeckt von den Ministern; um Störungen zu vermeiden, durften sie sich während der gesamten Verhandlungsdauer nicht ablösen. Mit der Übertragung durften sie erst am Abend beginnen, und zwar in einer unruhigen Botenstube; in langer Nachtarbeit fertigten sie schließlich die Übertragung zu Hause an. Unter solchen belastenden Umständen erschienen die Berichte mit einiger Verzögerung. Plötzlich wurde das Gerücht zur Gewissheit, die Regierung habe Professor Wigard (dieser war Gabelsbergeraner, Gründer und Leiter des Königlich Stenographischen Instituts in Dresden) mit drei Gabelsbergeranern nach Berlin gerufen. Professor Wigard übernahm die Leitung des stenografischen Büros nur unter der Bedingung, dass vor der stenografischen Aufnahme die Unzulänglichkeiten abgestellt wurden. Als diese Bedingung erfüllt war, arbeiteten auch die Stolzeaner zur Zufriedenheit.

Die Stolzeaner wurden in die Parlamente von Braunschweig und Anhalt berufen und bildeten 1850 die Mehrheit beim Unionsparlament in Erfurt. Stolze wurde zum Vorsteher des stenografischen Büros des Landtages von Preußen ernannt. Ab 1852 bildete er in der sitzungsfreien Zeit in amtlichen Lehrgängen Praktiker aus. Mit der Festigung seiner Stellung und der ständig wachsenden Anerkennung seiner Schrift wurde „Vater Stolze" leichter, fröhlicher und gesellschaftlicher. Gern weilte er nach der Tagesarbeit im Kreise der Schriftfreunde, soweit das der umfangreiche Briefwechsel, seine literarischen Arbeiten und die von ihm gewünschten Gutachten und Urteile zuließen.

Am 20. Mai 1866 feierten die Schriftfreunde die Veröffentlichung seines stenografischen Lebenswerkes 25 Jahre zuvor; er selbst war zu dieser Zeit aber bereits an das Bett gefesselt.

Am 9. Januar 1867 ‑ nur zwölf Tage nach dem Tod seiner Frau ‑ fand ihn sein Sohn am Morgen tot auf. Auf dem Friedhof der Domgemeinde haben ihm seine Schüler ein ehrendes Denkmal gesetzt.

Ein Nachtrag. Bevor Stolze an die Verwirklichung der Idee eines perfekten stenografischen Systems ging, analysierte er die bestehenden stenografischen Systeme sichtend und wertend. Als ihm im März 1838 der Wert des Verbindungsstriches ‑ seine Selbstlautsymbolik ‑ aufgegangen war, baute er auf phonetischer Grundlage (ähnliche Laute, ähnliche Zeiten) die Konsonanten nach strenger Wissenschaftlichkeit und nach den Gesetzen des Stammes. Nach Stolze darf kein Laut unbezeichnet bleiben, es sei denn, dass die Regel den Laut vertritt.

Wenn Gabelsberger das Stoffliche bis zur praktischen Idee zwingt und meistert, so durchdringt Stolze das Stoffliche mit der klaren Idee. In der DEK hat sich das Werk beider großer Meister ‑ Gabelsbergers und Stolzes ‑ so innig verschmolzen, dass man rückschauend den Widerstreit beider Schriften zwar bedauern muss, aber die für beide notwendige Ergänzung durch die andere Auffassung nur als glücklich bezeichnen kann.


Leopold Arends (1817 ‑ 1882)

In seiner „Allgemeinen Geschichte der Kurzschrift" nennt Dr. Christian Johnen neben Gabelsberger und Stolze als „3. Altmeister der deutschen Kurzschrift" Leopold Arends. Grund genug, 2007 (190. Geburtstag und 125. Todestag) an das stenografische Schaffen dieses vielseitig tätigen Mannes zu erinnern.

Leopold Arends wurde am 1. oder am 4. Dezember 1817 in Rakischek, einem Ort im heutigen Litauen, geboren. 1830 zog die Familie nach Riga. Dort besuchte der 13‑jährige Leopold die höhere Schule. Besondere Leistungen zeigte er in Musik, klassischen Sprachen und Schönschrift. Sein Wunsch, Medizin zu studieren, scheiterte am geringen Einkommen seines Stiefvaters. So entschied er sich für eine dreijährige Apothekerlehre. Die mit Auszeichnung bestandene Prüfung als Apothekergehilfe berechtigte ihn zum Pharmaziestudium.

In Riga hatte Arends 1834 an einem Lehrgang der Gabelsberger'schen „Redezeichenkunst" ohne nennenswerten Erfolg teilgenommen. Sein Interesse für die Stenografie war aber geweckt.

Der vielseitig Begabte und Interessierte widmete sich neben den Naturwissenschaften auch philologischen, geschichtlichen und philosophischen Studien und bestand 1841 die Staatsprüfung als „wissenschaftlicher Lehrer". Das Angebot, an einer höheren Schule zu unterrichten, schlug er aus und nahm die Hauslehrerstelle an, um nebenher genügend Zeit für seine naturwissenschaftlichen Studien sowie seine literarischen und musischen Neigungen zu haben, denn er wollte so schnell wie möglich nach Deutschland übersiedeln, weil er sich dort größere Chancen als Privatgelehrter erhoffte.

Von 1844 bis zu seinem Tode am 22. Dezember 1882 lebte Leopold Arends in Berlin und entfaltete eine rege Tätigkeit als Privatgelehrter und Schriftsteller; er pflegte enge Kontakte zu Wissenschaftlern, Literaten und Künstlern. Seit 1850 ging er einer vielseitigen Tätigkeit als Journalist nach; er war Redakteur der „Gerberzeitung", leitete die „Handwerkerzeitung", schrieb naturwissenschaftliche Artikel für mehrere Berliner Blätter und veröffentlichte darin auch mehrere Gedichte. Hinzu kam eine rege Vortragstätigkeit in verschiedenen Volks- und Bildungsvereinen. Nach der Berufung in das Lehrerkollegium des Berliner Handwerkervereins 1859 erteilte er regelmäßig Unterricht. Im Handwerkerverein behandelte Arends vor allem physikalische und chemische Themen. Sie zeugten von der Vielfalt seiner Interessen und der Breite seines Wissens, zum Beispiel Schall- und Lichtschwingungen, elektrische Telegrafie (durch Experimente veranschaulicht), Vorkommen und Verwendung der Edelmetalle, Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen, Leuchtgasfabrikation, Nährstoffe des Bodens, Wert der Düngemittel u. v. a. m.

Die Anfänge der Arends'schen Stenografie.

Arends beschäftigte sich mit der antiken Kurzschrift, erlernte die Systeme von Gabelsberger und Stolze, die ihm allerdings nicht zusagten. Ihm schwebte ein System mit buchstäblicher Vokalbezeichnung vor.

Die erste gedruckte systematische Darstellung seiner Kurzschrift erschien 1850 unter der Bezeichnung „Hempelsche Tafeln" (Namensgeber war der Berliner Buchhändler Hempel). Die Publikation trug den aufwendigen Titel „Die Stenographie in sechs Lektionen zu erlernen, neues, einfaches System der Stenographie ‑ gegründet auf die Gesetze der Wortbildung und der Schreibschrift, für jeden faßlich anwendbar ‑ von L. A. F. Arends, Privatgelehrter und Lehrer der Stenographie". In der Vorrede heißt es:

Die bisherigen Systeme haben bei allem Verdienstlichen noch keineswegs den Bereich der Kombinationen erschöpft, die für den Zweck der größten Einfachheit, Deutlichkeit und Kürze gemacht werden können; vielmehr bieten sie Schwierigkeiten, die allein durch den größten Fleiß und Zeitaufwand zu überwinden sind und somit die Schnellschreibkunst nur wenigen zugänglich machen. Dies ist es, was den Unterzeichneten veranlaßte, ein eigenes System mit Vergleichung der deutschen, lateinischen, griechischen und russischen Schriftzüge zu bilden.

In seiner Selbstbiografie berichtet Arends, dass er sich seit 1848 intensiv mit dem Gedanken eines „Schriftideals oder des eigentlichsten Äquivalents der Sprache" beschäftigt habe, das „zugleich die vollkommenste Stenographie" sein müsste.

1852 erschienen „Autographierte Unterrichtstafeln der Arendsschen Stenographie"; sie erlebten zwei Auflagen und wurden nach ihrem Druckort als „Hannoversche Tafeln" bezeichnet. Erst 1859 hatte das System die Gestalt, dass Arends ein richtiges Lehrbuch veröffentlichen konnte. Es erschien unter dem Titel „Vollständiger Leitfaden einer rationellen, ebenso leicht erlernbaren wie sicher auszuführenden Stenographie oder Kurzschrift für Schulen und zum Selbstunterricht". Auf dem Titelblatt ist aber auch noch Arends' Leitgedanke festgehalten:

Je mehr eine Schrift der Vorstellung eines Schriftideals entspricht, als eine desto würdigere Trägerin der Sprache darf sie sich der denkenden und schreibenden Welt empfehlen. Als solche wird sie nicht allein dem Auge das zu sein vermögen, was das tönende Wort dem Ohr, sondern auch für ihre Erlernung und dem Fluge des Gedankens und der Rede folgende Ausführbarkeit keine schwierigere Forderung an den Verstand und das Gedächtnis zu stellen haben, als sie die gewöhnliche Schrift für ihre Zwecke behauptet.[1]

In den seinem „Leitfaden" beigefügten Briefen über das Ideal einer Schrift stellte Arends folgende Grundsätze auf: 1. Strenge Unterscheidung von Selbst- und Mitlauten, 2. Größte Biegsamkeit der Zeichen, 3. Deutlichkeit der Schrift, 4. Geregelte Abkürzungsweise.

Die Betonung des Zweckes seiner Schrift als „Volkskurzschrift", die Fülle neuer Gedanken und Formen, das Streben nach großer Schriftdeutlichkeit, der Kampf gegen das „Abkürzungs- und Verstümmelungsprinzip" der älteren Kurzschriften riefen einen starken Eindruck hervor, sodass Arends der Hauptträger der vokalschreibenden deutschen Kurzschrift geworden ist. Indes wurde die Schrift durch die zahlreichen Hilfs- und Nebenzeichen, die nichteinheitliche Vokalschreibung (verschiedene Zeichen für An- und Inlaut, besondere r‑Vokalisation) und die vielen Kürzungsregeln und Besonderheiten doch recht verwickelt und unregelmäßig.

Arends, Gründer und autoritärer Mittelpunkt des Systems, duldete keinen Gedanken der Reform. Laut Testament verpflichtete er seine Frau, nach seinem Tode keinerlei Änderungen zuzulassen. Heinrich Roller und August Lehmann, die ehemals der Schule Arends angehörten, haben diese verlassen und in der Folgezeit eigene Systeme veröffentlicht.

Die verschiedensten Reformbemühungen nach Arends Tod blieben ergebnislos. Ein letztlich gefordertes „Einheitssystem" aller Arendsianer, um in der Auseinandersetzung mit anderen Systemen bestehen zu können, führte nicht zur Einheit und auch nicht zum Frieden der verschiedenen Richtungen.

* Modifizierte Fassung des auf der Gedenkveranstaltung der Arbeitsgemeinschaft deutscher Stenographie-Systeme e. V. am 8. Juli 2007 in Berlin gehaltenen Vortrags. Hauptquelle dieser Ausführungen zu Wilhelm Stolze und Leopold Arends ist: Bunte Blätter. 1927. S. 89 ‑ 95.

[1] Lambrich, Hans: Zum 175. Geburtstag von Leopold Arends. In: KMI. Heft 1/93. S. 9 ‑ 12.