VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

aus: NStPr 60/3 (2012) 74-77

9. Mai 2010. Nordrhein-Westfalen hat gewählt. Die Mandate der 181 designierten Parlamentsabgeordneten verteilen sich auf fünf Fraktionen – nach 1955 zum zweiten Mal in der Landesgeschichte. Kopf an Kopf liegen CDU und SPD mit je 67 Sitzen, gefolgt von den Grünen mit 23 Mandaten sowie der FDP mit 13 Abgeordneten. Die Linke zieht erstmals ins Parlament ein und erhält 11 Sitze. Sondierungsgespräche unter den Fraktionen führen schließlich zur Bildung einer rot-grünen Regierungskoalition, die mit insgesamt 90 Stimmen die für ein komfortables Regieren bevorzugte absolute Mehrheit allerdings um ein Mandat verfehlt.

 

Die konstituierende Sitzung am 9. Juni 2010 eröffnet geschäftsführend noch Regina van Dinther (CDU). Sie war in der vorangegangenen Legislatur Präsidentin des Landtags, hatte aber den direkten Wiedereinzug ins Landesparlament nicht geschafft. Bestellt wurde unter anderem ein „Ständiger Ausschuss gemäß Art. 40 der Landesverfassung", über den später noch zu reden sein wird.

Dienstag, 13. Juli 2010! In der 2. Sitzung des Plenums wird unter Tagesordnungspunkt 1 „Wahl des Präsidiums" offenkundig, dass in dieser Periode einiges nicht mit der bisher gekannten Routine erledigt werden wird: Traditionsgemäß fällt der stärksten Fraktion das Recht zu, den Kandidaten/die Kandidatin für das Amt des Landtagspräsidenten/der Landtagspräsidentin zu benennen. Vorgeschlagen wird der CDU‑Abgeordnete Eckhard Uhlenberg, in der vorangegangenen Periode unter Dr. Jürgen Rüttgers Landwirtschaftsminister und mit 27 Abgeordnetenjahren dienstältester Parlamentarier. Auf ihn entfallen 158 Ja‑Stimmen. Neun Abgeordnete stimmen gegen ihn, 14 enthalten sich der Stimme. Ohne Weiteres gewählt werden auch seine Stellvertreterinnen und Stellvertreter Carina Gödecke (SPD), Angela Freimuth (FDP) und Oliver Keymis (Grüne). Vierte Vizepräsidentin soll auf Vorschlag der Fraktion Die Linke die Abgeordnete Gunhild Böth werden. Mit lediglich 87 Ja‑Stimmen bei 180 abgegebenen Stimmen verfehlt sie im ersten Wahlgang die nötige Mehrheit. Im zweiten Anlauf wird sie gewählt.

Wahl der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten! Hannelore Kraft von der SPD stellt sich auf Vorschlag ihrer Fraktion zur Wahl – ohne Gegenkandidaten. Allerdings verfehlt auch sie im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit. Im zweiten Wahlgang reicht ihr bei 90 Ja‑Stimmen, 80 Nein‑Stimmen und 11 Enthaltungen die einfache Mehrheit. Sie ist gewählt und wird sogleich vereidigt.

Ihrem Kabinett, das sie am 15. Juli zur Vereidigung vorstellt, gehören 11 Minister/Ministerinnen an. Darüber hinaus bestellt Ministerpräsidentin Kraft den grünen Abgeordneten Horst Becker zum Parlamentarischen Staatssekretär im Geschäftsbereich des Ministers für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr.

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Es ist kein Geheimnis: Die 15. Wahlperiode endet vorzeitig nach noch nicht einmal zwei Jahren. Trotzdem gab's für Referatsleiter Otto Schrader und die Seinen gut zu tun: In 114 öffentlichen Anhörungen – auf die genaue Unterscheidung zwischen „Anhörung" und „Sachverständigengespräch" im engeren Sinne soll an dieser Stelle verzichtet werden – widmeten sich die Abgeordneten in den Fachausschüssen des Landtags der vertieften Auseinandersetzung mit komplexen Sachverhalten: Erneut erörtert wurden beispielsweise die Ladenöffnungszeiten. Auch das Kinderbildungsgesetz, mit dem sich die Vorgängerlandesregierung auf den Weg gemacht hatte, in der frühkindlichen Bildung Akzente zu setzen, stand auf der Agenda. Viel diskutiert war die Abschaffung der unter Schwarz-Gelb eingeführten Studiengebühren unter besonderer Berücksichtigung ihrer haushalterischen Kompensation und der finanziellen Handlungsfähigkeit der Hochschulen.

Untersuchungsausschüsse gab es derer zwei. Und beide waren sozusagen „Familiensache". Am Forschungsreaktor in Gronau hatte sich ein Zwischenfall ereignet: Brennelementekugeln waren auf den für sie vorgesehenen Transportwegen abhandengekommen. Oder nicht? – Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss sollte Klarheit verschaffen, inwieweit sich Wissenschafts- und Forschungsministerin Svenja Schulze einerseits und der für die Atomaufsicht federführende Minister Harry Kurt Voigtsberger andererseits angemessen verhalten haben – oder eben nicht. Michael Roeßgen oblag in diesem Ausschuss die Federführung.

Simona Roeßgen betreute als federführende Stenografin den PUA II zum Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW. Der umfangreiche Untersuchungsgegenstand des Gremiums betraf den ausgeuferten Einsatz öffentlicher Mittel in Bauvorhaben auch vergangener Legislaturperioden, der allen Fraktionen ein Dorn im Auge war und der Durchdringung harrte.

Beide PUAs wurden Opfer des Diskontinuitätsprinzips!

Eine Enquetekommission hatte der Landtag eingesetzt, um das Thema „Wohnungswirtschaftlicher Wandel" näher zu betrachten. War es in früheren Jahren noch üblich gewesen, dass der Sitzungsdokumentarische Dienst im Prinzip jede Sitzung einer Enquetekommission betreute, kamen „wir" nun lediglich in Ausnahmefällen zum Zug – etwa dann, wenn Sachverständige zu komplexeren Themen befragt wurden und in der Nachbearbeitung ein qualifiziertes Wortprotokoll unabdingbar war.

Zu Plenarsitzungen kam das Hohe Haus 57‑mal zusammen. Kurz und knapp verlief die 56. Sitzung, in der der Landtag die Wahlmänner und ‑frauen für die Bundesversammlung zur Wahl des elften Bundespräsidenten benannte, nachdem Christian Wulff nach nur kurzer Amtszeit seinen Hut nehmen musste. Diese Zusammenkunft dauerte gerade einmal 15 Minuten. Für NRW-Verhältnisse lang hingegen dauerte das Plenum am 29. Juni 2011, nämlich gut zwölfeinhalb Stunden.

Der 24. Juli 2010 wird als einer der schwärzesten Tage in der Geschichte Nordrhein-Westfalens in Erinnerung bleiben: Als Fest der Ausgelassenheit geplant, endet die Loveparade in Duisburg in einer Tragödie. 21 Tote und viele hundert Verletzte sind zu beklagen, als bei dieser Veranstaltung eine Massenpanik ausbricht. Eine uneingeschränkte Aufklärung, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, steht bis heute aus. Der Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses findet im Landtag keine Mehrheit.

Zu Beginn ihrer Amtszeit wirbt Ministerpräsidentin Kraft für ihre „Koalition der Einladung". Kraft ist mit ihrer rot-grünen Minderheitsregierung auf die Zustimmung oder auch Duldung vonseiten der Opposition angewiesen. Wichtige Vorhaben werden auf dieser Grundlage realisiert. Beispielhaft angeführt sei der schulpolitische Konsens zwischen SPD, Grünen und CDU, aus dem die „Sekundarschule" als neue Schulform hervorgeht.

Beim Geld hört Freundschaft auf. Erst recht dann, wenn sie nie bestanden hat: Immer und immer wieder wird der NRW‑Verfassungsgerichtshof mit der Klärung der Frage befasst, ob ein von der Regierung eingebrachter Haushaltsentwurf verfassungskonform ausfällt. Am 14. März 2012 steht die Beratung der Einzelpläne für den Haushalt 2012 auf der Tagesordnung. Und bei der Abstimmung zum Einzelplan 3, dem des Ministers für Inneres und Kommunales, bricht die ohnehin nicht existierende Freundschaft gänzlich auseinander. Der Einzelplan wird in der vorgelegten Form nach namentlicher Abstimmung mit 91 zu 90 Stimmen abgelehnt. Das Plenarprotokoll verzeichnet bei der Gelegenheit lebhaften Beifall von der CDU und von der FDP sowie Beifall von der LINKEN. Dass mit der Ablehnung eines Einzelplans auch die Ablehnung des Haushaltsentwurfs als Ganzes verbunden ist, setzt sich als Erkenntnis erst nach und nach durch.

Der eher geschäftsordnungsgemäßen Abwicklung der noch offenen Tagesordnungspunkte folgt als neuer Tagesordnungspunkt 16 die Behandlung der mit Drucksache 15/4290 sowie Drucksache 15/4291 vorgelegten Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einerseits sowie CDU und FDP andererseits, den Landtag nach Art. 35 Abs. 1 der Landesverfassung aufzulösen. Beide Anträge werden einstimmig angenommen. Um 17:17 Uhr verzeichnet das Plenarprotokoll den Schluss der Sitzung. Der Landtag der 15. Wahlperiode ist Historie.

Erstmals in der Landesgeschichte greift Art. 40 der Landesverfassung: Der Landtag bestellt einen Ständigen Ausschuss – in anderen Bundesländern kennt man ihn als Zwischenausschuss –, der die Rechte der Volksvertretung gegenüber der Regierung zu wahren hat, solange der Landtag nicht versammelt ist. Gebildet wird dieser Ausschuss nach der Geschäftsordnung des nordrhein-westfälischen Landtags von den ordentlichen und stellvertretenden Mitgliedern des Ältestenrates. Zum Vorsitzenden wählt das Gremium Eckhard Uhlenberg (CDU). Seine Vertretung übernimmt Carina Gödecke (SPD). Bis zur Landtagswahl am 13. Mai 2012 trat der Ausschuss dreimal zusammen.